Ich hatte den Halt verloren.
Wie ein Stein sauste ich in die Tiefe.
Die Sterne sprangen erschrocken zur Seite und hüllten mich in einen silbernen Funkenregen. Der Mond wandte sich ab, so dass es aussah, als fehle ihm ein Stück.
Feige Bande … alle hatten zugesehen, wie mich jemand über die Balustrade gestoßen hatte. Ein kräftiger Stoß - und nirgends etwas zum Festhalten. Aber war mir jemand zur Hilfe gekommen? Nein, man sah diskret zur Seite.
Sie ließen mich einfach fallen. War ich ihnen langweilig geworden? Oder wollten sie mich in ihrer Gemeinschaft nicht haben?
Wie auf Erden, so im Himmel?
Ich stürzte, wie einst Luzifer, dem Kopf voran, die Arme ausgebreitet, um die Geschwindigkeit zu verringern. Es half natürlich nichts. Ungebremst wirbelte ich in einen Schwarm Meteoriten hinein und wusste, ich würde genau wie sie, in der Erdatmosphäre verglühen.
Schon ahnte ich den blauen Schimmer unseres Planeten, da packte mich jemand am Fußgelenk. Ein Ruck, und ich hing kopfüber, mit abgespreizten Armen und Beinen im Weltraum. Wie ein Hampelmann. Ein sicherer Griff um die Taille und ich kam in die Waagerechte …
„Hab‘ ich dich …“
lachte jemand hinter mir.
Mächtige Schwingen breiteten sich aus. Es rauschte und knatterte, surrte, Funken sprühten, und dann schwebten mein Retter und ich im sanften Gleitflug der Erde entgegen.
„Paragliding ...“
schoss es mir durch den Kopf.
„Toller Tandemflug, was?“
Mein Retter konnte also Gedanken lesen.
Hier oben konnten sie wohl alles. Träume ausspionieren, Frauen aus ihren Luftschlössern rauben, sie in die Tiefe stoßen, weggucken, Hilfe verweigern …
„Reg dich nicht auf, ich hab‘ dich noch erwischt – auch wenn’s knapp war. Außerdem seid ihr auf der Erde auch nicht besser.“
„Das stimmt. Also doch – wie auf Erden, so im Himmel?“
„Mhm …“
„Und was ist mit dem Paradies?“
„Auch so ein Luftschloss.“
„Dann war der Stoß vorhin also meine Vertreibung …“
„Ja, vorerst. Ohne Flügel geht hier oben gar nichts. Und fliegen will, muss erst einmal laufen lernen.“
Ich schwieg.
Nach einer Weile konnte ich mich entspannen und den Flug genießen.
Wir waren der Erde schon ein ganzes Stück nähergekommen. Wie eine blau schimmernde Perle schwebte sie im All. Ich konnte die Kontinente und die Meere erkennen, Bergketten und Wüsten, darüber Wolkenschleier, die von den ersten Sonnenstrahlen rötlich angehaucht wurden.
Im Nordwesten guckte der Mond über die Kante. Wohl doch neugierig geworden.
Dann sah ich die Lichter der großen Städte - meiner Stadt, sah die Wohnblocks und den Park daneben.
Die riesigen Flügel glitten lautlos durch die Baumkronen und wir landeten sanft auf der Wiese. Ohne einziges Mal zu stolpern.
Jetzt endlich konnte ich mich umdrehen und meinen Retter ins Gesicht sehen. Groß und leuchtend stand er vor mir. Wie die Statue des berühmten Davids, eine Verkörperung von Kraft und Schönheit.
„Danke für die Rettung und den tollen Flug.“
„Keine Ursache, ist mein Job – ich bin übrigens Michel Angelo vom Sicherheitsdienst.“
Ich nickte und schluckte, fühlte mich gut in seiner Gegenwart, irgendwie aufgehoben.
„Willst du noch mit hineinkommen?“
Ich deutete auf den ersten Wohnblock …
„auf eine Tasse Kaffee vielleicht?“
Michel grinste und schüttelte den Kopf.
„Das nächste Mal, wenn ich dir wieder aus der Patsche helfen muss.“
Dann hob er die Hand zu Gruß …
„Mach’s gut, Kleine, und häng‘ deine Träume nicht wieder so hoch.“
Paragliding
von Susanna Ka
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