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für Tag konfrontiert war. Im Studio, beim Plattenlabel, in Interview-Sessions oder nachmittags beim Einkaufen oder abends in der Bar. Es hatte nach mir sicher andere Männer in ihrem Leben gegeben. Wusste sie meinen Namen überhaupt noch? Gab es für sie überhaupt einen konkreten Grund, ihn noch zu wissen?
Ich zwang mich, den Gedanken nicht zu Ende zu führen. Am anderen Ende der Bar lachte ein graumelierter Typ im Sakko über etwas, das er selbst gerade gesagt hatte. Menschen, die über ihre eigenen Aussagen am lautesten Lachen, waren mir schon immer unsympathisch gewesen. Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und bewegte mich wieder in Richtung der Tür.
Bevor ich den Eingang zur Halle erreicht hatte, trat eine Frau aus der Tür und verkündete mit piepsiger Stimme, dass das Konzert in wenigen Augenblicken beginnen würde. Ein Gefühl der Erlösung machte sich in mir breit. Endlich.
Ich ging in die Halle und stellte mich nah zur Bühne hin, etwas seitlich. Nach und nach strömten die Gäste von draußen herein. Die Halle füllte sich, teilweise waren die Leute schon angeheitert. Es war ein abstrus gemischtes Publikum. All die seltsam gekleideten und geschminkten Frauen, von denen, da war ich mir sicher, nur die wenigsten überhaupt eines ihrer Lieder kannten. Oder wussten, dass sie vor vielen Jahren mal in einer Rockband gespielt hatte, die einen Münchener Talentwettbewerb gewann und im Bundesfinale in Berlin den zweiten Platz belegte. Aber nein, daran wollte ich nun wirklich nicht denken.
Ein Typ im Holzfällerhemd betrat die Bühne und kündigte sie an. Wie sich herausstellte, ein Vertreter der Plattenfirma. „Seit vielen Jahren eine der aufregendsten Indie-Künstlerinnen Deutschlands, bekommt sie nun die Öffentlichkeit die sie schon längst verdient hat. Ihre Songs sind dafür geschaffen, von vielen gehört und verstanden zu werden.“ Die Menge johlte, das Licht ging aus und sie betrat hinter ihrer Band die Bühne.
Es war wie Magie. Sie hatte das Publikum, sogar dieses Publikum, vom ersten Augenblick an im Griff. Ihre Stimme war wunderbar. So eindringlich, so verbittert und trotzdem süß wie Zucker. Ihre Bewegungen sparsam, keine überflüssig, keine Getanze, und dennoch ging eine mitreißende Energie von ihr aus. Die Bühne gehörte ihr, wenn sie sang. Und wenn sie nicht sang, überließ sie die Bühne immer ihren Mitmusikern, ließ jedem von ihnen Raum, sich zu präsentieren. Ich konnte meine Augen nicht von ihr abwenden. Ihr Gesicht hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Das hatte ich zwar schon vorher gewusst, schließlich hatte ich im Internet Fotos von ihr gesehen. Aber jetzt war sie nur wenige Meter vor mir. Ich konnte so viele Einzelheiten erkennen. Die Grübchen über den Wangen, das kleine Muttermal am Hals. Erinnerungen stiegen in mir hoch. Bilder, die seit vielen Jahren nicht mehr den Weg in mein Bewusstsein gefunden hatten.
Wir saßen im Proberaum unserer Band im Münchener Vorort. Ich spielte Gitarre, sie sang. Sie improvisierte einen Text über meine Akkorde, spielte mit den Wörtern, feilte an den Sätzen herum. Wenn sie etwas hatte, das ihr gefiel, lächelte sie mich kurz an. So entstanden damals viele unserer Songs. Ich erinnerte mich daran, wie wir als Band zu fünft im VW-Bus nach Berlin fuhren. Im Bundesfinale des Talentwettbewerbs belegten wir den zweiten Platz, und sie sang an diesem Abend einfach umwerfend. Als wäre das erst gestern gewesen und nicht vor neun Jahren, sah ich deutlich vor mir, wie wir anschließend bei einem Freund übernachteten, eine tolle Party feierten, wie sie und ich eng umschlungen auf der Matratze einschliefen.
Schnitt. Ich sah sie jetzt durch mein winziges Zimmer im Wohnheim tanzen, zu den Liedern des ersten Mando-Diao-Albums. Sie lachte, nahm mich bei der Hand und führte mich zum schmissigen Beat von "Paralyzed". Sie genoss jede Sekunde, strahlte über das ganze Gesicht und tanzte so lange, bis ihr Gesicht ganz rot war. Seltsam, welche Bilder ich jetzt aus meinem Unterbewusstsein kramte. Der nächste Schnitt. Wir waren an der Isar, standen auf der Reichenbachbrücke. Es war bereits dunkel und wir standen ganz eng nebeneinander. Unter uns plätscherte und rauschte der Fluss, und wir brauchten nicht viele Worte, um uns gegenseitig unseres Glückes zu versichern.
Und jetzt? Mein Gott, jetzt sah ich sie vor mir, wie sie mir mit verweintem Gesicht sagte, sie könne das nicht mehr. Sie müsse jetzt einen Schlussstrich ziehen, auch wenn es sie schmerzte. Es sei einfach nicht genug Gefühl da für eine lange gemeinsame Zukunft. Sie wolle es mir lieber jetzt gleich sagen, da sie mich als Mensch einfach so gern habe. Wie in einem Film sah ich mich selbst aus der Außenperspektive. Ich nickte bedächtig, sah auf den Boden, murmelte etwas, das ausdrücken sollte, dass ich vollstes Verständnis hätte.
Damals war ich in einer sehr melancholischen Phase. Ich redete mir kurzzeitig sogar ein, dass ich ohne sie nicht mehr leben wollte und konnte. Doch natürlich konnte ich es. Ich kam auch darüber hinweg, dass sie aus der Band ausstieg, dass wir uns auflösten. Wir beide wollten Freunde bleiben, blieben es auch für kurze Zeit. Ich war dabei bei ihren allerersten Auftritten als Solokünstlerin. In den winzigen und verrauchten Kneipen Schwabings und Haidhausens stand ich am Tresen, trank ein Bier und jubelte ihr zu, einer der wenigen Anwesenden, die wirklich zuhörten. Das ging einige Monate gut. Dann verschwand sie aus meinem Leben, oder ich aus ihrem, je nach Sichtweise.
Mir wurde schlagartig wieder klar, was mich alles mit dieser Person verband, die dort oben auf der Bühne stand. Sie war ein großartiger Mensch, ich hatte vor und nach ihr nie wieder jemanden wie sie getroffen. Wenn sie lachte, und das tat sie abseits der Bühne oft, dann schien die Welt kurz die Luft anzuhalten, um sie nicht zu stören. Sie stand dort oben, knapp über Einssiebzig groß, eine schmächtige Person, und sie sang eine verstörende Ballade über die Trümmer einer gescheiterten Beziehung. Ihre Formulierungen waren ungewöhnlich und eben deshalb so wirkungsvoll. Niemand außer ihr konnte Worte finden, die derart tief in die Herzen der Zuhörer eindrangen. Jetzt wusste ich mit Sicherheit, dass sie alles kriegen konnte, was sie wollte. Auch mich. Ich war wieder vollends in ihrem Bann. Mit völliger Klarheit sah ich
"Wir waren jung" entstand im Jahr 2013 und wurde zusammen mit fünf weiteren Erzählungen im Sammelband "Bevor es zu spät ist" (2014) veröffentlicht.