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like, thanks. Wow. Ich versuchte, ein Zittern im Boden zu erspüren. Verdammt, irgendwo mussten sich doch Shakespeare, Byron und Salinger gerade in ihren Gräbern umdrehen. Doch ich spürte nichts.
Die Bühne war in der Eingangshalle der Firma aufgebaut. Es war bereits alles vorbereitet, alle Instrumente an ihrem Platz. Da vorne, beim Mikrofon, würde sie nachher stehen und sich im Laufe des Auftritts nur wenig bewegen. Sie würde das Mikrofon umklammern, wie sie es schon vor vielen Jahren getan hatte, und sie würde über die Liebe singen. Sie würde Geschichten von Wut, Trauer und Schmerz erzählen, denn das konnte sie am Besten. Sie fand die Kehrseite der Liebe viel anregender und inspirierender als romantisches Geträllere und Sonnenschein. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie ich sie mal fragte, ob sie auch über andere Themen schreiben könnte. Vielleicht ein Lied über den Sommer, meinetwegen über gesellschaftliche Fragen oder sogar etwas Politisches? Sie hatte nur gelacht und mich gefragt, warum. „Du willst doch nicht in eine Schublade gesteckt werden?“, hatte ich gefragt. „Warum nicht“, hatte sie erwidert. „Ich bin keine Philosophin, ich kann nur über das schreiben, was mich persönlich betrifft und was mich beschäftigt.“ Das verstand ich.
In der Halle war es wenigstens etwas ruhiger als draußen. Die Anlage beschallte nur den Innenhof, von der Elektromusik waren hier nur dumpfe Bässe zu hören. Eine Gruppe kichernder Frauen in atemberaubend hässlichen Gewändern stöckelte vorbei. Das Klacken ihrer Absätze hämmerte in meinen Schläfen. In ihren blassen Gesichtern hoben sich die grellrot geschminkten Lippen um so deutlicher ab. Stechender Parfümgeruch stieg mir in die Nase. Kurz schien es mir, als hätte eine aus der Gruppe mich im Vorbeigehen angeblickt. Hatte ich ihr Interesse geweckt? Ich dachte ernsthaft darüber nach, ob ich sie, wie sagt man so schön, von der Bettkante stoßen würde, falls es wirklich so wäre. Vielleicht war da unter der meterdicken Schminke und dem affektierten Verhalten noch ein Rest Natürlichkeit, den man freilegen konnte. Ich sah der Gruppe hinterher, die in Richtung der Toilette verschwand. Sie hatte sich nicht noch einmal umgedreht.
Ohnehin war ich ja nur wegen einer einzigen Frau hier. Und die war zumindest in meiner Erinnerung gänzlich anders gestrickt als die hier Anwesenden. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich in den Jahren, seit ich sie das letzte Mal persönlich getroffen hatte, so sehr verändert hatte. Na gut, sie war jetzt eine erfolgreiche Musikerin und musste zweifellos Kompromisse machen. Aber dass sie in lächerlichen Fummeln herumlaufen würde wie die meisten Frauen hier auf diesem Event, dass sie „geht gar nicht“ sagen und mit pinker Handtasche aufs Klo stöckeln würde, um ihre Schminke zu überprüfen – das überstieg meine Vorstellungskraft. Nicht sie.
Oft übernachtete sie bei mir im Studentenwohnheim. Nach den Bandproben fuhr sie meistens mit zu mir. Wenn noch eine Party stattfand, und das war oft der Fall, dann mischten wir uns noch ein wenig unters Volk. Meine Mitbewohner kamen super mit ihr aus, weil sie eine umkomplizierte und ehrliche Person war. Ich war mir schon damals sicher, und glaubte immer noch fest daran, dass viele meiner männlichen Freunde in sie verliebt waren. Sie waren ein wenig neidisch auf mich, auf unser Glück, und ich genoss das. Ich wusste, dass sie mich nicht betrügen würde. Oft, wenn wir auf einer Party waren und in verschiedenen Ecken eines Raumes standen, als wir uns mit unterschiedlichen Leuten unterhielten, dann trafen sich unsere Blicke, als hätten wir es verabredet. Dann lächelte sie mir zu, und ich fühlte mich wirklich und wahrhaftig glücklich.
Seltsam, wie intensiv ich an sie dachte. Das zwischen uns war schon lange vorbei und bei mir unter "drüber weg" verbucht. Dass ich sie heute unbedingt sehen wollte, ordnete ich eher unter Neugierde ein, schließlich hat man ja nicht alle Tage die Chance, seine Ex-Freundin nach vielen Jahren auf einer Bühne wieder zu sehen, als Sängerin kurz vor dem Durchbruch. Ich stand über den Dingen, es ging hier nicht um Gefühle.
Es gab nach wie vor kein Anzeichen dafür, dass das Konzert in den nächsten Minuten beginnen würde. Ich verließ die Halle und begab mich noch einmal ins Freie, wo sich die meisten Gäste dieser seltsamen Veranstaltung prächtig amüsierten. Es waberte immer noch die selbe nichtssagende Elektromusik aus den Boxen, während sich die jungen, hippen Menschen in den fragwürdigen Outfits Häppchen einführten oder pappig-süßen Champagner schlürften. Nicht zum ersten Male fragte ich mich, warum sie auf einem Event wie diesem auftrat. Vermutlich war sie von der neuen Plattenfirma vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Immerhin war die Chance groß, dass aus der Indie-Sängerin mit den scharfsinnigen und melancholischen Songs jetzt ein echter Star werden könnte. Sie stand auf der Schwelle zum Durchbruch. Wie groß war doch meine Überraschung gewesen, als ich vor ein paar Wochen einen ihrer Songs als Hintergrundmusik in der Fernsehwerbung einer großen Automarke gehört hatte. Ich freute mich darüber. Ich gönnte es ihr, weil ich die Musik gut fand. Sie war schwungvoll, tanzbar und intelligent. Oder war die Musik nur der vorgeschobene Grund, und in Wahrheit waren unsere einstigen Gefühle ausschlaggebend? Ich versuchte, zu hören was mein Herz zu dieser Frage zu sagen hatte. Aber keine Chance. Die Bässe waren zu laut, der Lärm um mich herum zu schrill. Also holte ich mir noch ein Bier.
Ich sah mir das Treiben von der Bar aus an. Meine Befremdung, meine Abscheu gegenüber diesem Event und den Anwesenden, das war inzwischen einer Art Fatalismus gewichen. Nun war ich nun einmal hier, an einem Ort, an den ich nicht gehörte. Und wenn schon? Das hier war die perfekte Gelegenheit, sie nach vielen Jahren wieder zu sehen. Und viele weitere Gelegenheiten würde ich wohl nicht mehr haben, das war mir bewusst. Ich war ein Münchener Lokaljournalist, sie vermutlich bald ein Popstar. Wir hatten zwar eine gemeinsame Vergangenheit, aber was zählte die noch nach all den Jahren? In diesem Moment setzte sich der hässliche Gedanke in meinem Kopf fest: was, wenn sie mich nicht erkennen würde? Wenn sie mein Gesicht aus ihrer Erinnerung gelöscht hatte. Verdammt, das war möglich. Wer wusste, mit wie vielen Visagen sie Tag
"Wir waren jung" entstand im Jahr 2013 und wurde zusammen mit fünf weiteren Erzählungen im Sammelband "Bevor es zu spät ist" (2014) veröffentlicht.