Wir waren jung - Page 5

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es: Ich war verliebt in sie. Verliebter als je zuvor in meinem Leben, vergaß ich alles um mich herum.
Ja, ich genoss es plötzlich sogar, hier zu sein. Kein Gedanke mehr an die grotesken Gestalten auf diesem grotesken Fest. Scheiß drauf, sagte ich zu mir selbst. Scheiß auf die dämlichen Gespräche, die Elektromusik im Innenhof, den pappigen Champagner. Wir waren doch alle aus dem selben Holz geschnitzt. Warum sich darüber aufregen, was andere Menschen sagen, wie sie sich verhalten und was sie symbolisieren? Warum sich mit den anderen vergleichen? Es war doch ohnehin alles egal. Es gab wirklich wichtigeres im Leben. Ganz besonders den Menschen dort auf der Bühne.
Die Musik nahm ich gar nicht mehr richtig wahr, denn meine Gedanken kreisten wild umher. Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen. Ich hätte um sie kämpfen müssen, damals. Niemals hätte ich zulassen dürfen, dass dieser Engel in andere Sphären entschwebt. Das wollte ich ihr zurufen. Ich wollte, dass sie mich bemerkt, mich auf die Bühne bittet und mit mir ein Duett singt. Mein Herz schlug bis zum Hals. Mein Mund öffnete sich, doch kein Ton kam heraus. Ich merkte, wie mir der Schweiß auf der Stirn stand. Ihr Lied war beendet, die Menge jubelte ihr begeistert zu. Die Band spielte die ersten Takte des nächsten Songs, eine weitere schwerfällige Ballade im Walzertakt. Ehe der Gesang einsetzte, drehte sie plötzlich ihren Kopf und blickte mir kurz direkt ins Gesicht.
Ein leichtes Schwindelgefühl überkam mich, als unsere Blicke sich für eine Sekunde oder zwei trafen. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass wir uns gegenseitig in die Augen blickten. Sie war mir so vertraut, als wären wir nie auseinander gegangen. Ich suchte die selbe Vertrautheit in ihrem Blick, suchte nach einem Zeichen des Erkennens. Doch ich fand es nicht. In ihrem Gesicht regte sich keine besondere Emotion. Kein Lächeln umspielte ihren Mund, kein Augenzwinkern machte mir deutlich, dass sie mich erkannt hatte. Schon war ihr Gesicht wieder am Mikrofon, und sie begann mit geschlossenen Augen zu singen. Ich hielt den Atem an und wartete. Komm schon, wollte ich schreien, sieh mich an! Hier bin ich! Doch ich war wie gelähmt.
Sie war eine gute Schauspielerin, dachte ich mir. Natürlich, sie will sich nichts anmerken lassen. Doch es dauerte nur wenige Sekunden, bis mich das Entsetzen packte. Hatte sie wirklich nur ihre Bühnenshow durchgezogen und ihre Freude über den unverhofften Anblick nur geschickt versteckt? Oder hatte sie mich tatsächlich nicht erkannt?
Ich spürte, wie sich mir die Brust zusammenzog. Nein, es konnte nicht sein. Sie musste noch wissen, wer ich war. Ob sie wollte oder nicht, ich hatte in ihrem Leben eine Rolle gespielt. Vielleicht keine entscheidende, aber ich war ein Teil ihres Werdegangs. So viele konnte es nach mir nicht gegeben haben. Dies alles schoss mir innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf. Sie stand immer noch am Mikrofon und sang gegen die gebannte Stille der Zuhörer an.
Es war zu spät, mir noch etwas einzureden. Der Samen war gesät, ich konnte nichts mehr gegen den bitteren Schmerz unternehmen, der sich in mir ausbreitete. Gedanken, die noch wenige Augenblicke zuvor keinen Platz in meiner Seele gehabt hatten, fraßen sich genüsslich in mein Innerstes. "Sie kennt mich nicht mehr", flüsterte ich leise vor mich hin, während meine Augen durch sie hindurch sahen. Ich war ein Nichts, oder noch weniger als das. Als wäre der Boden unter mir ein Trampolin, spürte ich, wie meine Beine weich wurden. Ein Schwindel überkam mich, die Musik drang nur noch gedämpft bis in meinen Kopf vor.
Ich schleppte mich vorbei an den gebannt lauschenden Zuhörern hin zur Wand, die mir Halt gab. Ein letzter Blick zur Bühne verriet mir, dass sie immer noch das Mikrofon mit beiden Händen umfasste und wie in Trance sang. Kurz überlegte ich, ob ich noch einmal versuchen sollte, sie auf mich aufmerksam zu machen. Doch ich hatte schon nicht mehr die Kraft dazu. Aus Schmerz war bereits Verbitterung geworden. Plötzlich war sie nicht mehr der Engel mit der betörenden Stimme, sondern eine hinterlistige, berechnende Schlange, die mit den Gefühlen anderer Menschen spielte. Ich musste schlucken. Ob hinter ihren geschlossenen Augen noch ein Bild von mir hing? Oder war dort alles mit anderen Erinnerungen behangen? Waren die Wände frisch geweißelt, damit kein Fleck mehr an früher erinnert?
Jetzt hatte ich sie durchschaut. Sie sang immer nur über dieses eine Thema, die bittere Trauer nach dem Scheitern einer Beziehung. Immer ging es bei ihr nur um das Ende der Liebe, nie um deren Höhepunkte. Woher hatte sie wohl die Inspiration dazu? Das konnte sie sich nicht alles aus den Fingern saugen. Nun war mir klar, wieso ihre Balladen so authentisch klangen. Weil sie aus dem Leid anderer Menschen Kapital schlug. Es musste bei ihr immer einen Nachschub für den Herzschmerz geben, aus dem ihre Lieder entstanden. Wie ein Raucher mit einer neuen Kippe seine Sucht befriedigt, musste sie immer neue, naive Jungs abservieren, damit sie das Ende einer weiteren Beziehung beweinen konnte. Vielleicht war sie nicht bindungsfähig, vielleicht wollte sie es aber auch gar nicht sein. Ich hatte sie durchschaut. Ich war nicht mehr als einer der Zigarettenstummel, die sie weggeworfen hatte, ehe sie sich die nächste anzündete. Ich war wohl sogar der Erste gewesen, der Anfangspunkt ihrer Sucht.
Ihre Tränen hatten so echt gewirkt, damals, und ich Idiot war auch noch darauf hereingefallen und hatte mich wochenlang hundeelend gefühlt. Wie viele andere mir nachgefolgt waren, darüber konnte ich nur spekulieren. Ein Harem an Verflossenen, dachte ich mit Verbitterung. Jetzt wusste ich, wieso sie sich nach unserer letzten Begegnung an der Uni nie wieder gemeldet hatte. Sie hatte damals wohl bereits ein neues Opfer gefunden. Ich war nur eine staubige Akte in ihrem prall gefüllten Schrank. Sie hatte aus unserer Beziehung einige Lieder herauspressen können, danach brauchte sie mich nicht mehr. Sie war nun dort oben, und ich hier unten. Sie kurz vor dem Durchbruch, ich ein kleines Puzzlestück in ihrem Aufstieg. Nicht mehr wert, dass man sich an ihn erinnert. Ich hatte nicht nötig, mir das anzutun. "Viel Glück weiterhin", sagte ich vor mich hin und lächelte. Ein Pärchen in meiner Nähe blickte mich kurz an und rückte dann ein paar Schritte von mir ab.
Ohne noch einmal zur Bühne zu blicken, trank ich mein Bier aus, stellte meine Flasche an die Wand und verließ den Saal. Draußen standen nur noch wenige Leute, die Musik kam nur noch leise aus den Lautsprechern. Ich holte tief Luft und ging durch den Innenhof in Richtung der U-Bahn.
Am nächsten Nachmittag hatte ich meinen Bericht über das Sommerevent fertig geschrieben. Ich war zufrieden mit dem, was ich verfasst hatte. Auch der Chef vom Dienst lobte meinen Bericht, was mich überraschte. Als ich mit ihm im Büro saß, las er mir halblaut die Zeilen vor, die ich selbst nur kurz zuvor zu Papier gebracht hatte.
„Dass Erfolg kein Zufall ist, wissen wir, seitdem TV-Castingshows Jahr für Jahr unfertige Produkte in die Welt ausspeien und mit teuren Marketingkampagnen zu One-Hit-Wonders aufblähen. Doch hier liegt der Fall anders. Dieser Künstlerin wird Erfolg beschieden sein, weil sie ihn sich konsequent erarbeitet hat. Es ist eine logische Folge der Perfektion, mit der sie ihre Kunst betreibt. Wenn sie ihre traurigen Lieder über die dunklen Seiten der Liebe singt, dann klingt es, als wäre sie die Erste, die je auf diese Idee gekommen ist. Als wäre es ihre Erfindung. Sie singt nicht über das, was die Leute gerne hören wollen, sondern über das, was sie selbst erlebt hat und was sie quält. Man muss hinhören, und man tut es mit Begeisterung. Viele Sängerinnen wollen sich als authentisch verkaufen, weil das beim Publikum nun mal gut ankommt. Diese Frau hier ist authentisch, in jedem Wortsinn.“
"Sehr gut", sagte er. "Sie scheinen den Abend ja genossen zu haben". Ich lächelte und nickte. Als ich nach der Besprechung mit meinem Chef zum Platz zurückkehrte, spielte das Radio ihre neue Single. Sie sang über enttäuschte Erwartungen. Über den schönen Schein, auf den sie hereingefallen und der ihr viel Leid zugefügt hatte. Ich drehte ein bisschen lauter und widmete mich, leise mitsummend, meinem nächsten Artikel.

"Wir waren jung" entstand im Jahr 2013 und wurde zusammen mit fünf weiteren Erzählungen im Sammelband "Bevor es zu spät ist" (2014) veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Im Sammelband des Autors "Bevor es zu spät ist" (Taschenbuch und eBook bei Amazon)

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