Wir waren jung

Bild von Mark Read
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Es war ein lauer Sommerabend. Die Luft war mild, die Welt war schön. Die untergehende Sonne tauchte den wolkenlosen Himmel in ein sattes orange, an dem jeder Landschaftsmaler seine Freude gehabt hätte. An Abenden wie diesen war alles möglich. Ich hasste es.
Ja, es ging mir hundeelend. Ich war an einem Ort, an dem ich nicht sein wollte. Umgeben von Menschen, die mich wütend machten. Eigentlich hätte die Freude, dass ich sie nach all den Jahren wiedersehen würde, überwiegen müssen. Doch stattdessen verzweifelte ich am Stumpfsinn der Welt um mich herum.
Sie hatte ja keine Ahnung, was ich ihr zuliebe alles auf mich nahm. Nur ihretwegen hatte ich mich freiwillig für die Berichterstattung über diese Sommerparty gemeldet. Da ich so etwas üblicherweise nie tat, gingen bei den Kollegen die Augenbrauen fragend in die Höhe und ich musste mir in der Mittagspause manch spöttischen Kommentar anhören. Mochten sie sich doch das Maul über mich zerreißen. Es war mir egal. Ich wollte niemandem meine Gründe erklären, das hätte zu weit geführt. Aber letztlich ging es nur um sie. Nur sie wollte ich sehen.
Wie lange war das nun her, dass wir uns das letzte Mal begegnet waren? Sechs Jahre, sieben Jahre gewiss. Es war keine schöne Begegnung gewesen, das wusste ich noch. Man hatte sich bereits verändert, hatte neue Beziehungen gefunden. Die gemeinsame Vergangenheit war für uns beide eine Last geworden, auch wenn zumindest ich mir das noch nicht eingestanden hatte. Wir waren uns damals zufällig in der Nähe der Universität begegnet und plauderten verkrampft über verschiedene Dinge. Mein Studium, ihr Studium, ihre Musikkarriere, die damals noch ganz am Anfang stand. Dann verabschiedeten wir uns voneinander mit dem Versprechen: "Bis bald". Vermutlich wusste sie damals schon so gut wie ich, dass das eine Lüge war.
Doch das war lange her. Viel war seitdem passiert, und nun freute ich mich auf sie. Die Jahre hatten die Erinnerung an unsere schönen Momente verstärkt, wie das meistens der Fall war. Jetzt war sie eine bekannte Sängerin, was mich in seltsamer Weise mit Stolz erfüllte. Ich wollte unbedingt mit ihr sprechen, sie fragen, wie es ihr geht. Und vielleicht sogar noch weitere Dinge, über die ich mir aber noch nicht im Klaren war.
Doch zunächst musste ich auf ihr Erscheinen warten, und das war das Schlimme. Denn ich konnte nicht verstehen, was sie ausgerechnet an einen Ort wie diesen geführt hatte. Ich stand in der Ecke des Innenhofes, alleine und abgesondert vom Treiben um mich herum. Mit einer Mischung aus Befremden und Fassungslosigkeit betrachtete ich die Szenerie. Dieser Ort war bevölkert von einem Menschenschlag, der mir bislang höchstens vereinzelt begegnet war und nun in großer Zahl um mich herum streifte.
Eine gewisse Vorahnung über das Publikum dieses Events hatte ich bereits bekommen, als ich mich ein wenig im Internet informiert hatte. Die Sommerparty eines hippen Internet-Modeunternehmens, inklusive Auftritt einer aufstrebenden Sängerin. Es genügte ein Blick auf die in grellen Farben gehaltene Webseite des Unternehmens, um mir klarzumachen, was hier ungefähr los sein würde. In den flippigen Fotos und kurzen Werbefilmchen wurde ein Lebensgefühl propagiert, das sich nur aus Konsum und Zurschaustellung speiste. Die Botschaft dahinter: Kaufe bei uns ein, und zwar möglichst viel, und werde endlich ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Was für Menschen eine Botschaft wie diese anlockt, war mir schnell klar. Dass ich hier keine lässigen Lebenskünstler antreffen würde, mit denen man beim Bier über die besten Liedzeilen Bob Dylans philosophieren kann, davon war ich ausgegangen.
Aber das nahm ich auf mich. Denn ich machte das alles ja für sie, ich wollte nur sie wieder sehen. Außerdem kostete mich die Sache als akkreditierter Journalist keinen Eintritt. Wird schon nicht so schlimm sein, hatte ich mir gedacht und stellte nun fest, dass es viel schlimmer war, als ich es mir im Abgrund meiner düstersten Träume je hätte ausmalen können.
Um mich herum stöckelten dürre Weiber, die ihre mangelnde Naturschönheit durch groteske Überschminkung und absurden Kleidungsstil nur noch betonten. Junge und ahnungslose Mädchen in den Körpern von erwachsenen Frauen, die nicht viel mehr Lebenserfahrung besaßen als ein Eisbärenbaby im Zoo. Mir kam es so vor, als wollten sie den Beweis dafür antreten, dass im Namen der Mode jede Sünde erlaubt war. Von Sackleinen-Kleidern über Jeanswesten bis hin zu Zweimeter-Heels war jeder Modetrend vertreten, den sich durchgeknallte ADHS-Gören in quietschbunten Blogs herbei fantasiert und via Internet in die Welt gekotzt hatten. Echte Originalität oder Eigenständigkeit konnte ich beim besten Willen nicht erkennen. Umso mehr ängstigte mich der Gedanke, dass diese Frauen sich selbst als stilbewusste Trendpioniere sahen. Ich hoffte inständig, dass sich keiner dieser angeblich angesagten Modetrends als gesellschaftsfähig erweisen würde.
Doch es war nicht nur die Mode der Anwesenden, die mich abschreckte. Es war auch die eintönige Elektromusik aus den Boxen. Musik für Leute, die keine Musik mögen, fasste ich das seichte Hintergrundgedudel für mich zusammen. Geschaffen für ein Publikum, das ungern geistig herausgefordert wird, und damit ideal für ein Event wie dieses. Denn nicht zuletzt schockierte mich die Art und Weise, in der die jungen Leute hier sich amüsierten. Geradezu hemmungslos machte sich jeder zum Affen. Das taten junge Menschen früher auch schon, aber musste es auf derart unlustige Weise geschehen? Alle zwei Meter wurden pinke Smartphones in die Höhe gehalten, wurde dämlich posiert, posteten die Leute die immer gleichen Fotos vom jeweils anderen bei Facebook. Feierte man so heutzutage ausgelassene Feste? War das wirklich die junge Generation, von der man gemeinhin behauptete, dass sie weiß, wie man auf die Pauke haut?
Es war alles so schrecklich gleichförmig und unlustig und langweilig. Wie Roboter gackerten die Frauen sich gegenseitig Worthülsen vor, die um die immer gleichen Eckpunkte kreisten – Mode, Urlaub, trendige Cafés, neue Mobiltelefone, irgendeine Hollywood-Komödie. Ich belauschte Gespräche, die so aufgesetzt und gelangweilt waren, dass es fast schon körperlich schmerzte. Dialoge wie am Reißbrett entworfen. Irgendjemand sagte etwas, sein Gegenüber lachte. Doc das Lachen klang hohl, es geschah aus gesellschaftlicher Verpflichtung und nicht aus Freude. Auf bizarre Weise klang eine Frau wie die andere, was nicht zuletzt auch am aalglatten Hochdeutsch aus den Vorabend-Soaps lag, das in dieser Klientel offenbar zur Standardsprache geworden war.
Obwohl selbst erst knapp jenseits der Dreißig, fühlte ich mich diesen Leuten gegenüber fremd.

"Wir waren jung" entstand im Jahr 2013 und wurde zusammen mit fünf weiteren Erzählungen im Sammelband "Bevor es zu spät ist" (2014) veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Im Sammelband des Autors "Bevor es zu spät ist" (Taschenbuch und eBook bei Amazon)

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