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Eigentlich hieß er Mull, und wir hassten ihn. Er lebte im Ruhestand, was ihn nicht daran hinderte umzubuddeln, was zum Umbuddeln auch nur annähernd geeignet schien. Wir waren weiß Gott nicht die Einzigen, die vom „Maulwurf“ sprachen, wenn die Rede auf ihn kam.
Kaum dass sich der Lenz am Fuße des Elbdeichs niedergelassen hatte, um Wiesen und Weiden für den Osterspaziergang aufzubrezeln, begann für Mull der zweite Frühling: die Buddel-Saison. Wir kannten seinen Spleen zur Genüge, und jene Zeiten, in denen sein abstruses Gewühle milde belächelt wurde, waren längst passé. Der Verdruss über seine fruchtlose Emsigkeit, die vom Frühjahr bis in den späten Herbst hinein währte, wuchs von Jahr zu Jahr selbst bei denen, die seine Aktivitäten anfangs über den grünen Klee gelobt hatten; denn es war indes unübersehbar geworden, dass Mulls eifrige Hände weder in der Lage waren, das mit kümmerlichem, struppigen Gras überwucherte Grundstück in englische Rasenflächen zu verwandeln, noch ließ sich irgendein anderer Nutzen aus seinem Gewühle ziehen, im Gegenteil: Die ständige Buddelei brachte den Hausbewohnern nichts als Nachteile. Und fatalerweise erinnerte sich niemand der Betroffenen an Ovids berühmten Satz: „Wehret den Anfängen“, der sich zwar auf die Gefahren der Liebe bezieht, aber ebenso gut als Warnung vor Mulls abgrundtiefer Leidenschaft für Schaufel und Spaten hätte verstanden werden können.
Sobald die ersten warmen Sonnenstrahlen die Erde aus dem Winterschlaf weckten, nahm sich Mull den Rasenfleck hinter der großen Villa vor, die sechs Familien ein Dach über den Kopf gab, das, wenngleich regendurchlässig, weil stellenweise lückenhaft, immerhin den heftigen Stürmen trotzte, die vorzugsweise im späten Herbst das flache Marschland heimsuchten, wobei man kaum noch unterscheiden konnte, ob gerade Ebbe oder Flut war.
Und mal abgesehen davon, dass die Frauen während Mulls zweitem Frühling ihre Wäsche nicht aufhängen konnten, weil der Boden mit dem zaghaft sprießenden Grün dermaßen dreist auf den Kopf gestellt war, dass man mit jedem Schritt bis zu den Knöcheln in schwarzer, von unappetitlichen Regenwürmern wimmelnder Muttererde versank und sich Schuhe und Strümpfe ruinierte, mussten wir Halbwüchsigen, die im häufig unterschätzten Alter zwischen dreizehn und fünfzehn waren und, dessen ungeachtet, von den Erwachsenen fortwährend „Kinder“ geheißen wurden, wochenlang auf die Abkürzung zum Sport- und Fussballplatz verzichten, der, von Pflaumenbäumen und haushohen Birken umsäumt, sich hinter dem weitläufigen Rasenstück wie eine Oase der Glückseligkeit auftat, darin wir nicht allein unsere Kräfte messen konnten, sondern obendrein dieselben ungestraft vergeuden durften.
Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich an jenem verhängnisvollen Donnerstag von der Schule nach Hause kam: Die Grünfläche vor dem Haus war fast bis zur Hälfte umgepflügt. Meine Kniekehlen, die sich damals von Zeit zu Zeit durch irrsinnige Schmerzattacken bemerkbar machten und sich offenbar noch im Wachstum befanden, fühlten sich von einer Sekunde zur nächsten butterweich an, und mir wurde nicht nur enorm flau im Magen, sondern darüber hinaus ziemlich finster vor Augen, was gewiss nicht allein auf die pechschwarze Erde zurückzuführen war, die in grotesken Häufchen überall herumlag. Diesen Teil des Grundstücks hatte Mull bislang verschont, und ich hätte mir niemals träumen lassen, dass er den unangenehmen Uringestank aushalten würde, der dort an manchen Tagen die Luft verseuchte. Aus purer Bequemlichkeit hatte sich eine Reihe männlicher Hausbewohner angewöhnt, im Schutz der Lücke zwischen Kampes und Dettmers Geräteschuppen in den kleinen Graben zu pinkeln, der hinter den laienhaft zusammengezimmerten Brettern nicht so recht zu wissen schien, ob er verwegen fluten oder allenfalls verhalten rieseln sollte. Gleichwohl trieb das so geschändete Wasser - aus welchen Gründen auch immer - die Fäkalien stets Richtung Straße.
Wintertags waren Eis und Schnee an jenem anrüchigen Ort pissgelb – nicht einmal klirrender Frost konnte die Freiluft-Pinkler dazu bewegen, ihre schlechte Angewohnheit aufzugeben -, und wir hielten uns angeekelt die Nasen zu, wenn wir die heikle Stelle mit unseren Schlittschuhen passierten.
Als Susan mich das erste Mal besuchte – es war ein sonniger, warmer Maientag, wir saßen auf dem kleinen Steg, der über den schändlich entweihten Graben zum Nachbargrundstück führte, um von dort aus das vornehme
Hühnervolk zu studieren, das in seinem Freigehege mit freudigem Krakeel den Frühling begrüßte -, tauchte ohne jede Vorwarnung ein strullender Pimmel hinter Dettmers Schuppen auf. Mann, war mir das peinlich! Susan wäre vor lauter Schreck beinahe rücklings in den Graben gekippt, der an jenem Tag kaum nennenswertes Wasser führte und voller Moder stand, worin zu meinem großen Unbehagen nicht allein harmloses Kleinstgetier hauste, sondern auch erschreckend fette Ratten ihr Unwesen trieben. Ein Sturz in die Tiefe des trüben Morasts wäre einer Tragödie gleichgekommen und hätte unsere Freundschaft vermutlich nicht überlebt.
Mull wühlte unermüdlich im Erdreich umher, als ich meine Schritte auf den grauen Schotter der Hauseinfahrt lenkte. Ich grüßte, und er musterte mich mit seinen Maulwurfsäuglein auf penetrante Art und Weise. Mir fuhr ein eiskalter Schauder über den Rücken, als mein Blick auf seine derben Hände fiel, die wie üblich den Stiel eines in der Sonne blinkenden Spatens umklammert hielten.
Unter der großen Kastanie am Ende des Rasens ruhte Emma. Mull hatte sie nicht gefunden – noch nicht. Er würde Emma mit seinen scharfkantigen Gartenutensilien bis zur Unkenntlichkeit verwüsten, daran bestand für mich nicht der geringste Zweifel.
Wir haben Emma zum Schweigen bringen müssen, Susan, Karen und ich. Es fiel uns weiß Gott nicht leicht, aber wir sahen keinen anderen Ausweg. Wenn Emma geplaudert hätte, wären wir von der Schule geflogen - wegen ein paar Steinchen, die wir in frisch gezapfte Kuhmilch plumpsen ließen. - Wer trifft ins Schwarze oder vielmehr ins Weiße, he? - Karen? - Susan? - Ulla? - Da! - Zack! – Hahaha! -
Ein blödes Spiel, auf das ich niemals von allein gekommen wäre. Emma zu ärgern, wäre mir nicht mal im Traum eingefallen. Weshalb auch? Erst einen Tag zuvor war sie meiner Mutter und mir auf dem Heimweg nach einer Besorgung in der Innenstadt über den Weg gelaufen, fast haargenau an derselben Stelle, an der sie vierundzwanzig Stunden später ihren letzten Schnaufer tat.
Mutter und ich hatten ausnahmsweise die Abkürzung über die Wiesen genommen, weil mir gerade noch rechtzeitig eingefallen war, dass ich für den nächsten Tag eine nicht unbeträchtliche Menge an Algebraaufgaben lösen musste, deren Erledigung ich seit
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Dieser Krimi beruht auf einer wahren Begebenheit, die eher harmlos ist. Wir - drei, vier übermütige Mädchen im Teeniealter, haben der guten Emma auf dem Deich ein paar Steinchen in die Milch geworfen, das war alles. Emma hat sich ein bisschen aufgeregt und uns auf Plattdeutsch zur Raison gebracht. Es hätte sich aber durchaus so zugetragen haben können, wie ich es geschildert habe. Darüber hinaus habe ich alle Protagonisten, die Namen sind geändert, in mein Herz geschlossen - ohne Ausnahme, auch Mull und Emma. Mull und seine Frau habe ich als kleines Kind oft besucht und mit ihnen geplaudert. Später haben wir uns ein wenig entfremdet. Ich war nicht mehr das kleine niedliche Mädchen, sondern älter und etwas selbstbewusster geworden. Aber ich hatte Mull und seine Frau immer noch gern. Auch Emma - sie hat mir nie etwas zuleide getan - es war lediglich meine ausufernde Fantasie, die diesen Krimi schrieb. Wir hätten Emma niemals etwas zuleide tun können. Dazu waren wir alle viel zu lieb. Und da ich nicht davor zurückschrecke, mich selber als Leiche schriftlich darzustellen, habe ich mir gestattet, Emma, die eines natürlichen Todes gestorben ist, umbringen zu lassen, was sie nie verdient hätte. Sie möge mir verzeihen - ebenso wie Mull, den ich hier - nur für diese Geschichte - karikiert habe. Er und seine Frau sind längst gestorben - eines natürlichen Todes. Annelie