Rosel K.

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von Heide Nöchel (noé)

Rosel K. hatte nun mit ihren 94 Jahren fast den letzten ihrer 10.000 Grundausstattungspunkte verbraucht. Letztendlich konnte sie die Anschaffung eines Rollstuhles nicht mehr vermeiden, was arg zu Buche schlug. Sie hatte ihr Leben lang hart gearbeitet und 5 Kinder großgezogen, das hatte ihr etliche Bonuspunkte eingebracht. Und sie war stolz darauf, dass sie nie auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen war, was die Gesundheitspunkte anging. Die sollte jedes von ihnen ganz für sich verbrauchen können, sie würden sie sicher benötigen, denn die Zeiten wurden härter.

Gut, als Franz starb – mit nur 56 Jahren! – hatte sie seine restlichen Gesundheitspunkte übernehmen können, denn sie lebten ja in ehelicher Zugewinngemeinschaft und er hatte sie außerdem ausdrücklich als seine Erbin eingesetzt. Da war sie schon froh gewesen. Und immerhin hatte sie mit der Geburt eines jeden ihrer Kinder 500 weitere, sogenannte Mütterpunkte, erwirtschaftet von ebenjener Wirtschaft, für deren Erhalt sie damit gesorgt hatte! Gott-sei-Dank waren alle ihre Kinder am Leben, erwerbstätig und gesund geblieben, bis auf die eine oder andere kleine Erkältung, so dass ihnen ihr Kontingent im Wesentlichen erhalten geblieben war und sie selbst während der Erziehungszeit keine Strafpunkte abgezogen bekam! Aber sie hatte auch durch ihre tägliche strenge Selbstdisziplin gut haushalten können mit ihrem eigenen Punktekonto. Schließlich zehrte jede noch so kleine Grippe an dem Bestand, also bekam sie einfach nie eine. Und größere OPs hatte sie verhindern können.

Selbst im Altenheim, in das sie vor jetzt vor fast 25 Jahren – an ihrem 70. Geburtstag – hatte überwechseln müssen, weil ihr Wohnraum gebraucht wurde und in ihrem Viertel schon 123 junge Familien auf der Warteliste standen, hatte sie immer mit angepackt, und stets am Limit. Zuerst in der Spülküche war die riesige, dampfende und lärmende Geschirrwaschanlage ihr Einsatzgebiet gewesen. Später, als sie – wie sie gerne mit selbstironischem Schmunzeln bemerkte – wieder der Erde entgegenwuchs und ihr Rücken sich beugte, fand sie ihren Einsatzort im Garten: Ihre Körperhaltung prädestinierte sie dazu, das Unkraut zwischen den Beeten auszuzupfen. Das war eine schöne Arbeit, fand sie, denn so war sie dem heißen Wasserdampf und den schweren Geschirrkörben in der Spülküche entronnen und konnte täglich in der freien Natur sein und gute Luft atmen, das war schon ein Privileg!

Jedes produktiv gearbeitete Jahr über 90 brachte ihr weitere Ehrenpunkte ein, immer so viel, wie sie gerade Jahre erreicht hatte, beim letzten Mal also 94. Das war ein schöner Puffer, wie sie fand. Aber der Rollstuhl hatte nun fast alle verbraucht, 20 waren ihr noch geblieben und bis zu ihrem nächsten Geburtstag waren es noch 2 Monate hin, da durfte jetzt nichts mehr passieren …

Sie hustete ein bisschen in dem aufsteigenden Medikamentenstaub, beugte sich aber wieder über das Fließband. Es blieb ihr keine Zeit zum Untätigsein, sie hatte den Ausschuss auszusortieren. Nur die unversehrten bunten Scheißegalpillen, wie sie die Glücklichmacher nannte, durften in die Verpackungsmaschine, das menschliche Auge blieb einfach unersetzbar. Und das Leben war kein Ponyhof.

© noé/2018

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