Dieses Mal hatte mein Bruder meine Mutter zur regelmäßigen Kontroll-Untersuchung in das kleine Krankenhaus im Park gefahren. Dem untersuchenden Klinikchef war das sofort aufgefallen: „Wo haben Sie denn Ihren Mann gelassen?“
„Der ist heute zuhause geblieben, der war nicht fein zuwege.“
„Was hat er denn?“
„Ach, er ist so schnell außer Atem in der letzten Zeit.“
„Sagen Sie Ihrem Sohn, er soll SOFORT nach Hause fahren und ihn herholen!“
Das war sozusagen der letzte selbstbestimmte Akt, der meinem Vater blieb: Dem Ruf des Mediziners Folge zu leisten. Bei seiner Untersuchung wurde festgestellt, dass er einen schweren Herzklappenschaden hatte und sofort operiert werden musste, weshalb man ihn in ein Klinikum nach Bremen verlegte.
In einer großen konzertierten Aktion haben wir ihn dort nach der OP besucht, auf der Intensivstation, aber er hat es wohl nicht mitbekommen, denn man hatte ihn in ein Koma versetzt. Auch, als er in das kleine Krankenhaus im Park zurückverlegt worden war, lag er noch im Koma und also auch dort auf der Intensivstation.
Mir schien seine Zeit hier endlos, denn ich konnte ihn immer nur am Wochenende besuchen fahren. Da ich 500 km zu fahren hatte, bekam ich die Sondererlaubnis, ihn freitags auch noch um 23 Uhr besuchen zu dürfen. Inzwischen lag auch meine Mutter wieder in demselben Krankenhaus, eine Etage über meinem Vater, um ein Zimmer versetzt, ich ging also zuerst zu meinem Vater und dann hoch zu meiner Mutter, ihre Krankenhauswäsche abzuholen.
Bei meiner Mutter war wechselnd zusätzlich angeblich der gefürchtete Krankenhauskeim festgestellt worden, mal ja, mal nein. Ob sie den aber wirklich hatte, oder ob das nur ein gutgemeinter Trick des Klinikchefs war, der seiner Langzeitpatientin, die er ins Herz geschlossen hatte, die Annehmlichkeiten eines Einzelzimmers verschaffen wollte, wie ich stark vermute, kann ich nicht definitiv sagen. In all den Wochen, in denen mein Vater in seiner piepsenden Enklave lag, wurde ihr ganze zwei Mal die Möglichkeit gegeben, ihren Mann in einer Art Geheimmission und über einen internen Aufzug zu besuchen..
Papa war mein zweiter Vater und ein Mensch, der auf dem Dorf aufgewachsen war, bis der unselige Krieg seine Kindheit mit dem Ruf zum Militär beendete. Auch er hatte – wie meine Mutter – seine schlesische Heimat verloren. Möglicherweise hat das die beiden zusammengebracht, als er nach dem Krieg in der Fremde die Witwe mit Kind kennenlernte.
Papa war sehr naturverbunden geblieben, war zur Marine gegangen und hatte sich sein eigenes kleines Paradies im Garten hinter dem Eigenheim geschaffen, das sie sich gebaut hatten. Jeden freien Moment hat er dort verbracht, mit seiner Prinz-Heinrich-Mütze auf dem Kopf, wie ein norddeutscher Bauer.
Als er in Rente gegangen war, hatte das Schicksal aber andere Pläne mit ihm als Freizeit, und er hat sich stets voll eingegeben. Zuerst hat er den passend zum Zeitpunkt bettlägerig gewordenen Bruder meiner Mutter, den sie bei sich aufgenommen hatten, ganztags umsorgt, auch nachts, bis dieser verstarb. Dann wurde meine Mutter pensioniert, aber dauerkrank, wenn auch nicht immobil, so dass auch sie seine ständig präsente Fürsorge genießen konnte. Bei all dem hat er seiner eigenen Gesundheit nie das richtige Augenmerk gegönnt. Meine Mutter meinte später, sie hätte aufmerksam werden müssen, als er von allein das Rauchen seiner Sonntagszigarre aufgab und sich schon mal in die Herzgegend fasste, aber auf Fragen hatte er immer „nichts“, und zum Doktor wollte er auch nie, obwohl sie ihn oftmals gebeten hat, doch „mit reinzukommen“.
Jetzt hatte er also eine neue Herzklappe erhalten, kam aber nicht mehr so richtig bei, wie man im Norden sagt. Pfleger Frieder hatte mir erlaubt, eine Kassette mit Vogelstimmen mitzubringen, das gegen das Maschinenpiepsen der Intensivstation Papa die Illusion von Natur bringen sollte. Er wachte auch irgendwann auf, ob deshalb oder sowieso, weiß man nicht, aber er blieb einfach schwach. Ich erinnere mich, dass ich ihn an einem Freitag im Nachtdunkel fragte, welche Fische er als Junge im Dorfbach gefangen hatte. Er antwortete mehrfach tonlos, ich verstand ihn aber nicht, konnte auch seine Mundbewegungen nicht richtig deuten. Erst jetzt weiß ich, dass er versuchte, „Krebse“ zu sagen. Er muss mich für ziemlich beschränkt gehalten haben. Die Gesamtsituation muss für ihn die Hölle gewesen sein, so eingesperrt und fremdbestimmt …
Später erklärte mir einer der diensthabenden Ärzte, bei dem Zustand von Papas Herz habe er nie die Chance gehabt „wieder zu werden“, dazu hätte man ihm gleich zwei Herzklappen austauschen müssen … bleibt die Frage, wieso das nicht gemacht worden ist?
Papas Füße sahen unter der Bettdecke hervor. Seine Zehennägel waren sehr lang geworden. Ich fragte Pfleger Frieder, ob er sie ihm nicht schneiden könne. Nein, antwortete er, das dürften sie nicht, wegen der Verletzungsgefahr. Das bleibe für die Angehörigen, das zu tun. Also vereinbarte ich mit ihm, dass ich am nächsten Tag das übernehmen wolle. Pfleger Frieder machte mir das Angebot, man könne das Ganze ja auch mit einem Fußbad verbinden.
Am nächsten Tag kam ich zur vereinbarten Zeit. Mein Vater saß in seinem Krankenhaushemdchen auf einem sogenannten Klostuhl bereits parat, die Waschschüssel vor sich auf dem Boden. Er sah mir entgegen und fragte nach meiner Schwester: „Wo ist Andrea?“ Sie wohnte zwei Autostunden entfernt und hatte Schichtdienst.
„Die muss doch arbeiten!“, sagte ich und fing an, seine Füße zu versorgen. Erst Monate später wurde mir klar, dass er bei der Ankündigung des Pflegers „Ihre Tochter kommt!“ wohl sein leibliches Kind erwartet hatte …
Am nächsten Morgen, einem Sonntag, rief mich mein Bruder um 8 Uhr im Haus meiner Eltern an, das ich bei meinen Wochenendbesuchen nutzte. Als registrierte Bezugsperson war er als Erster informiert worden, dass mein Vater soeben verstorben sei, Wiederbelebungsversuche seien erfolglos geblieben.
Wir trafen uns im Foyer des Krankenhauses. Der Arzt fragte uns wegen unserer Mutter und wir entschieden, dass es unsere Aufgabe als Kinder sei, sie zu informieren und fuhren eine Station höher. So bedrückt, wie die Schwestern uns entgegenkamen, wussten sie schon Bescheid.
Wir öffneten die Zimmertür meiner Mutter, sie saß auf der Bettkante und wandte uns den Rücken zu. Ihren freudig überraschten Blick, als sie den Kopf wendete und uns sah, werde ich nie vergessen: „Ihr seid ja schon da! Und so früh!“ Und dann ihr Begreifen, als mein Bruder und ich uns ansahen und nur stumm nickten …
Einen Nachschlag gibt es noch.
Ich fand, die Betreuung meines Vaters durch die Besatzung der Intensivstation sei einen Dank wert. Ein paar Tage nach der Beerdigung klingelte ich dort, Pfleger Frieder öffnete mir. Ich gab mein Dankeschön ab und hob besonders hervor, wie nett ich es fand, dass ich meinem Vater noch die Füße versorgen durfte. Da grinste er breit von einem Ohr zum anderen und sagte wörtlich: „Ja, wir dachten uns, lass ihn die große Reise mal mit sauberen Füßen antreten.“
Das verschlug mir die Sprache. Sie hatten also am Tag zuvor, wahrscheinlich aus Erfahrung, schon „gewusst“, dass mein Vater sterben würde? Und hatten meiner Mutter, eine Etage höher im selben Haus, keine Möglichkeit mehr gegeben …?! Ich war wie vor den Kopf gestoßen, besonders auch wegen der Flapsigkeit!
Der Klinikchef begegnete mir, ebenso wie ich auf dem Weg zu meiner Mutter. Seine Betroffenheit wird sich aber wohl hauptsächlich aus der Flapsigkeit des Pflegers genährt haben.
Sorry, Frieder.
© noé/2019