27 – Lebenssplitter "Mamas Hochzeit"

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von Heide Nöchel (noé)

Meine Mama und dieser Mann heirateten.

Für mich bedeutete das in erster Linie: Meine Mama bekam ein neues Kleid, geschneidert aus mitternachtsblauem Samt, bestickt mit unzähligen Pailletten, die so wunderschön glitzerten. Dazu trug sie eine dreieckige Haube als Haarschmuck in ihrem kastanienroten Haar, ebenfalls aus diesem mitternachtsblauen Samt geschneidert und auch mit Pailletten bestickt und an der vorderen Spitze des Dreiecks hing ihr eine tränenförmige Perle in die Stirn.

Und ICH bekam ein neues Kleid aus dem gleichen Samt geschneidert mit einem weiten, glockenförmigen Röckchen. Dazu trug ich ein Körbchen mit einem langen Henkel, lauter Blüten und Blütenblättern, die ich zwischen den Bankreihen vor ihnen her auf den roten Fliesenboden der Kirche streute.

Dann erinnere ich mich noch daran, wie wir aus einem Auto ausstiegen, als wir von der Kirche wiederkamen (die man bequem eigentlich auch zu Fuß hätte erreichen können, wie wir sie ja jeden Sonntag erreichten).

Und dann, dass im Wohnzimmer der Wohnzimmertisch zur vollen Länge ausgezogen und wunderschön gedeckt war mit Geschirr, das überhaupt nicht zusammenpasste.
Dass diese „Tafel“ durch Beistelltische verlängert wurde.
Dass als sog. „Katzentische“ Beistelltische die Essfläche noch in die Ecken hinein verlängerten und keine drei Stühle gleich waren.
Dass in Kinderbadewannen Trinkgläser und weiteres Geschirr und Besteck von den Kolleginnen meiner Mutter gleich mitgebracht wurden (aus der dortigen Kantine).
Dass das ganze Wohnzimmer gesteckt voll mit Leuten war, die sich alle nicht mehr rühren konnten, weil kein Platz dafür blieb.
Dass der Küchentisch vollgestellt war mit Schüsseln und Krims und Krams.
Dass Spüle, Kohle-, Gasherd übervoll belegt waren, sogar die Fensterbank stand voll mit im Vorfeld bereiteten Speisen.
Dass die Wohnungstür gleich offen blieb, weil ständig jemand kam oder ging mit Blumen. Geschenken oder Glückwünschen.
Dass immer jemand im Klo war und jemand anderer davor wartete.
Und dass das Bett im Schlafzimmer dick belegt war mit Garderobe.

Und an das Essen erinnere ich mich. So lecker und so reichlich und so viel Verschiedenes.
Und an den dunkelgrünen Streifen, der lang vom Löffel meines unbekannten weiblichen Gegenübers hing, der ihr aber nichts auszumachen schien, als sie die Suppe, angeregt mit dem Sitznachbarn plaudernd, in den Mund beförderte. Heute nehme ich an, es war Porree, aber damals war ich einfach fasziniert davon, mit welcher Nonchalance dieses schwarzgrüne Teil von ihr geschluckt wurde.
Und ich erinnere mich, dass es keine Pause gab zwischen Mittagessen und Kaffeetrinken, an die vielen Blechkuchen, die überladenen Glasteller mit Streuselkuchenstreifen, die aufgeschnittenen Marmorkuchen mit und ohne Schokoglasur, die Hefekuchen in Kastenform, die Schüsseln voller Schlagsahne, und dass es direkt nach dem Kaffeetrinken sofort Abendbrot gab mit Platten über Platten voller belegter Brote, fächrig aufgeschnittenen Cornichons, jeder Menge Petersilie und gekochten Eiern mit neckischen Tomatenhütchen und Mayonnaisespritzern als „Fliegenpilze“ zur Dekoration, an Platten mit „Russischen Eiern“ und Sardellen, an sofort anschließendes Knabberzeug auf den schon fleckigen, ehemals weißen Tischdecken, an knüllige Servietten, an leere Gläser und ebensolche Flaschen, an unglaublich viel Krach und unglaublich viele Blumen und viel zu wenig Vasen, die wurden aus dem ganzen Haus zusammengeborgt, die Nachbarn waren ja sowieso dabei, und an ganz viel Gelächter und Gedrängel.

Irgendwann bin ich dann wohl erschöpft eingeschlafen, denn an ein Ende erinnere ich mich nicht mehr, nur an die Kleiderberge neben mir auf dem großen Bett im Schlafzimmer.
Auch daran, dass es mich gar nicht störte, wenn das Gelächter und Gläserklappern von drüben ab und zu grell anschwoll, weil jemand die Tür zum Schlafzimmer geöffnet hatte, um beim schwachen Lichtschein aus dem Flur seinen eigenen Mantel unter den Kleiderbergen, leisem Gekicher und lautem „Pssst!“ hervorzukramen.
Und daran, dass ich ein diffuses Gefühl von Geborgenheit empfand.

noé/2014

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