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noch da und sichern Spuren“, sagte Mutti. Ich sprang sofort aus dem Bett, wusch mich und zog mir irgendetwas über. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen! Ich rutschte das letzte Stück der Treppe auf dem Geländer hinunter. Zum Glück war niemand in der Küche, der mich aufhalten konnte. Im Flur roch es nach frisch gebackenem Kirschkuchen. Offenbar hatte Leni ihre guten Nerven wiedergefunden.
Als ich die Veranda betrat, sah ich durch die linke Glaswand zwei Uniformierte. Sie standen vor dem großen Fenster des Herrenzimmers und diskutierten aufgeregt miteinander. Jemand hatte die Katzenleiber fortgeschafft. Helge, der mit von der Partie war, deutete wichtigtuerisch auf eine Reifenspur, genau an der Stelle, wo Axel Kröger gestern seinen BMW geparkt hatte.
Wollte der Kröger etwa belasten? Ausgerechnet der!
Ich dreht mich unwillig um und lief in den Saal. Oma stand an einem der Fenster, starrte auf die Laube und pochte wie wild gegen die Butzenscheiben.
„Oma, willst du die Scheiben kaputtmachen? Und wenn ja, weshalb?“, fragte ich lächelnd.
„Guten Morgen, Katja“, sagte Oma pikiert. „Endlich ausgeschlafen? Als ich in deinem Alter war ... Na ja. Die Jugend von heute. Die darf sich alles erlauben. Opa hört mein Klopfen nicht. Er wird von Tag zu Tag schwerhöriger, scheint mir. Hol ihn bitte herein. Er wollte mit dir zusammen frühstücken."
„Gerne, Oma“, sagte ich und raste wieder zurück durch die Veranda. Mittlerweile kam ich mir vor wie ein Botenjunge.
„Na, Katja? Hast du die toten Katzen auch gesehen?“, fragte Helge, der mir auf dem Rasen entgegenkam und seinen fiesen Blick auf mir ruhen ließ. Ich erschrak fast zu Tode über seinen finsteren, hasserfüllten Gesichtsausdruck. In seinem Geglupsche, das trocken wie Zunder war, lag alle Feindseligkeit dieser Welt. Wenn das keine Morddrohung war! Ich war mit einem Mal nicht mehr scharf darauf zu erfahren, was die Gesetzeshüter unter diesem Delikt verstanden. Wortlos wandte ich mich ab und ging auf die Laube zu. Opa saß auf der Bank und döste vor sich hin.
„Opa“, rief ich von weitem. „Unser Frühstück ist fertig.“
„Katja, was ist denn mir dir los?“, fragte Opa, als ich vor ihm stand. „Du siehst ja aus, als sei dir der Leibhaftige begegnet.“
„Ach nichts, Opa. Alles in Ordnung“, beruhigte ich ihn. „Ich bin nur noch etwas müde. Leni hat mich sehr früh geweckt.“
Als wir an den beiden Polizisten vorbeikamen, stand Helge wieder vor der Veranda. Er begrüßte Opa ausgesprochen höflich und wechselte mit ihm so verständnisvolle Worte, was den Katzenmord betraf, dass mir doch tatsächlich der Gedanke kam, ich hätte mir die hässliche Szene vor knapp zwei Minuten nur eingebildet. Mann, dieser Typ kann sich vielleicht verstellen, liebe Christine.
„Netter Kerl, dieser Helge. Und so fleißig und hilfsbereit“, sagte Opa. „Der wird Hof und Forst schon wieder auf Vordermann bringen und unsere Gnädigste entlasten.“
Er nickte zufrieden.
„Wieso?“, fragte ich entrüstet. „Als Knut noch am Leben war, lief doch alles bestens. Und Herr Kröger tut doch auch alles, was in seiner Macht steht.“
„Ja, ja, der Knut. Das war ein feiner Kerl“, seufzte Opa. „Und Axel ist auch sehr tüchtig. Aber ein Mann alleine kann nicht viel ausrichten auf diesem großen Hof.
Weshalb sagst du denn immer noch Herr Kröger? Axel hat dir doch schon tausendmal …“
„Ach, unterhaltet ihr euch über mich? Ich habe gar nicht gewusst, dass ich so wichtig bin, Opa!“ Opa lachte. Es hörte sich an, als krächze ein Rabe. Hoffentlich wird er nicht krank, dachte ich.
„Da seid ihr ja endlich“, rief Oma, als wir die Küche betraten. „Gibt es etwas Neues wegen der Katzen?“
„Ich habe keine Ahnung, Anita. Welche Katzen meinst du denn?“, fragte Opa.
Oma und Mutti sahen sich besorgt an. „Geht es dir heute nicht gut, Edmund?“, fragte Oma.
„Das Wetter“, sagte Opa. „So drückend und schwül war es schon lange nicht mehr. Ich lege mich nach dem Frühstück noch ein wenig hin.“
„Ja, das wird das Beste sein, Papa“, sagte Mutti mit leiser, trauriger Stimme.
Hoffentlich stirbt er nicht so bald, dachte ich und hing meinen trübsinnigen Gedanken nach.
Es klopfte an der Tür (natürlich, Christine, wir waren ja auch beim Frühstück, zumindest, was Opa und mich betraf). Oma rief: „Herein“ und Leni trat ins Zimmer.
„Anita“, stieß sie verlegen hervor und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Hast du noch ein Tässchen Kaffee für mich?“
„Worauf du dich verlassen kannst, Lene“, sagte Oma und holte Tasse und Unterteller aus dem Küchenregal.
Ich überlegte, ob ich Hannes erzählen sollte, mit welch gemeinem Gesichtsausdruck Helge mich vorhin bedacht hatte. Wir hatten uns zwar kaum länger als fünf Sekunden in die Augen gesehen; aber diese kurze Zeitspanne war völlig ausreichend, um mir Helges Missgunst, ja, weit mehr noch, seinen Hass, zu versichern. Ich ahnte, dass Knuts Tod mit im Spiel war. Aber Helge hat mich noch nie leiden können. Das beruht allerdings auf Gegenseitigkeit. Trotzdem hat sich mein Herz zusammengezogen, als wolle es mir jemand mit einem Gummiband aus dem Körper zerren. Mir fiel mit einem Mal ein, dass wieder ein Strauß für Leni fällig war. Ich beschloss, mit dem Rad über die Felder zu fahren, um ein paar Blumen für sie zu pflücken. Sicher wird Leni sich über einen bunten Feldblumenstrauß freuen – an einem Tag wie diesem, der ihr bislang nichts als Kummer gebracht hat, dachte ich und nahm mir fest vor, diesmal auch an Oma zu denken.
„Katja, wo willst du hin?“ Kora keuchte hinter mir her, als ich zum Schuppen lief, um Lenis Fahrrad zu holen.
„Ich will über die Felder, Blumen pflücken für Leni“, sagte ich.
„Das könnten wir doch auch gemeinsam im Wald“, sagte Kora. „Ich will Pilze sammeln. Komm doch bitte mit. Allein ist es mir dort nicht geheuer.“
„Was für Pilze stehen denn da herum und warten auf dich, Kora?“, fragte ich, wobei mir der Gedanke kam, dass es unverantwortlich wäre, Kora ohne Begleitung in den Wald zu lassen.
Konny und Hannes waren in ihre Ausflugspläne gewiss nicht eingeweiht.
„Im Lachauer Forst gibt es jede Menge Steinpilze und Pfifferlinge. Bei uns zu Hause soll es heute Pilzpfanne geben. Hab ich mir gewünscht, aber ich will Mutti mit ganz frischen Pilzen überraschen. Du bist eingeladen, aber nur, wenn du mir hilfst.“
„Also gut“, sagte ich. „Hoffentlich finden wir dort auch ein paar schöne Blumen.“
„Na klar“, rief Kora. „Wo hast du denn deine Augen gehabt, als wir durch den Wald zum Baden gefahren sind?“
„Überall und nirgends“, gab ich nachdenklich zu.
Wir fuhren nebeneinander, soweit die weitläufigen, mit Pilzgeflechten überzogenen Wurzeln es zuließen. Als die zweite Lichtung in Sicht kam, stiegen wir von den Rädern und lehnten sie gegen einen Baumstamm. Kora und ich pflückten Weidenröschen und Fingerhut mit weißen und erdbeerrosafarbenene Blüten.
„Lass uns auch noch ein wenig Waldfrauenfarn dazwischen legen. Das sieht gut aus“, schlug Kora vor. „Leni wird sich freuen nach dem ganzen Ärger, den ihr heute ein besonders gemeingefährliches Subjekt beschert hat. Da muss ein ganz fieser Typ am Werk gewesen sein, hat meine Mutter gesagt.“
„Der Strauß ist jetzt groß genug, Kora. Mehr kann ich gar nicht tragen“, ließ ich sie nach einer Weile wissen.
„Lass uns jetzt Pilze sammeln.“ Ich bemühte mich, meiner Stimme, die meistens viel zu leise und eher kraftlos ist, wie du längst weißt, liebe Christine, Festigkeit zu verleihen. Es hätte gar nicht nötig getan, denn Kora war sofort einverstanden.
„Bist du eigentlich in Hannes verliebt?“, fragte sie plötzlich und völlig unerwartet für mich.
„Kann schon sein“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Und ich in den Schlagzeuger, also den finde ich einfach ... „
„Ich weiß“, fiel ich ihr ins Wort und äffte Konny nach: „So wahnsinnig süüüüüß, einfach zuckersüüüüß!“
Kora sah mich nachdenklich an. Dann sagte sie mit geheimnisvoller Stimme: „Katja, ich verrate dir jetzt was. Aber du darfst es aber niemandem weitererzählen, am allerwenigsten Hannes.“
„Ja?“, fragte ich erstaunt. „Ehrenwort“, forderte Kora.
„Auf Ehr und Gewissen“, versprach ich und sah ihr fest in die Augen. Ich war sehr gespannt, was es so Geheimnisvolles gab, Christine. Kora seufzte tief, bevor sie sich schweren Herzens von ihrer rätselhaften Botschaft trennte.
„Mein Bruder liebt dich“, stieß sie mit großartiger Miene hervor und machte ein feierliches Gesicht.
„Konny?“, fragte ich ungläubig. „Wie kommst du denn darauf?“
„Er ist unheimlich eifersüchtig auf Hannes“, sagte Kora.
„Aber wenn man eifersüchtig ist, heißt es doch noch lange nicht, dass man jemanden liebt, Kora“, sagte ich.
„Steht das in deinen Büchern?“, fragte sie und sah mich misstrauisch an.
„Auch“, gab ich lachend zu.
„Jedenfalls hat Konny dich sehr, sehr gern. Das weiß ich genau“, beharrte sie und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen.
„Ich mag Konny doch auch, Kora. Er ist ein netter, anständiger Kerl“, sagte ich und legte einen hübschen grüngelben Pilz in den großen Korb, den Kora von zu Hause mitgebracht hatte. Kora warf mir einen vernichtenden Blick zu.
„Bist du total verrückt geworden, Katja?, fragte sie. „Das ist ein Knollenblätterpilz. Der ist hochgiftig und schädigt die Leber. Man kann schon nach wenigen Gramm daran sterben. Willst du uns alle umbringen?“