Gefährlicher Sommer (letzter Text des 14. Teils)

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von Annelie Kelch

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Mädchen,
dein Blick aus dem Röhricht,
ich rief dich den langen Tag.
Füll mir die Hände mit Sand,
die Feuchte will ich, die Schwere.
Nun atmen wir Finsternis.
Lauscht' ich über den Strom?
Dem Vogel nach oder drunten
dem Grundfisch? – „Lieber, immer
Sprunglaut hör ich und droben
Flügelschlag. Geh mir nicht fort.“
(Johannes Bobrowski; „Am Strom“)

Macheath (letzter Text des 14. Teils)

„Was hältst du von Helge?“, fragte mich Hannes geradeheraus, kaum dass ich unten im Garten angekommen war. Er saß am runden Holztisch unter dem großen gelben Sonnendach und war am Futtern. Dein Tantchen, liebe Christine, hatte dem Liebling aller Damen des Hofes über fünfundsiebzig einen Riesenteller Erdbeeren spendiert.

„Möchtest du auch ein paar Erdbeeren, Katja?“, fragte Tante Agnes. Sie stand leicht gebückt in der niedrigen Eingangstür, vor der dein Vater jedes Mal in die Knie gehen muss, sobald er ins Häuschen eintreten oder es verlassen will, und sah zu uns herüber.
„Nein danke, Tante Agnes“, lehnte ich ab. „Ich habe soeben reichlich von Lenis Himbeergrütze genossen.“
„Ach ja, die schmeckt wirklich hervorragend. Die Himbeeren sind jetzt alle gepflückt. Falls ihr noch eine einzige an unseren Sträuchern entdecken solltet, Kinder, bekommt jeder von mir ein Eis spendiert. Aber dass du mir ja nicht schummelst, Hannes.“
Sie zog sich in die Küche zurück, während ich mir den Kanon „dreckiger“ Schimpfwörter ins Gedächtnis rief, den dein Vater, der Herr Oberst, vom Stapel lässt, wenn er das Bücken vergessen hat, und musste grienen.

„Woran denkst du jetzt schon wieder? – Ich habe dich etwas gefragt, Katja“, knurrte Hannes mit rotem Erdbeermund.
„Hellllgeeee!?" Ich zog den Namen absichtlich in die Länge, Christine. Wenn ich auch nur an den denke, wird mir schon schlecht.
„Ich kenne Helge viel zu wenig, als dass ich ihn beurteilen könnte“, hörte ich mich sagen. „Aber Ulla ist schwer in Ordnung.“
„Ja, das finde ich auch“, stimmte Hannes mir zu und mampfte zufrieden weiter.
„Weißt du, Katja, was mein Vater heute Abend zu mir gesagt hat?“, fragte er mich nach einer Weile mit leiser Stimme.
„Was denn Hannes?“
Papa Kröger sagte wortwörtlich: "Seid ja vorsichtig, Katja und du. Der Lachauer Forst ist nicht ungefährlich.“
Ich zuckte zusammen, und mein Herz fing wieder mal zu bubbern an.
„Das haben wir bereits zu spüren bekommt, stimmt 's Hannes?“, wis­perte ich.
Hannes sah sich vorsichtig nach allen Seiten um.
„Weißt du was, Katja?“, fing er nach einer Weile wieder an und beugte sich zu mir hinüber.
„Was denn, Hannes?“, fragte ich und tat so, als wäre ich wahnsinnig gespannt.
„Helge spielt mit Kora Federball,“ stieß er wütend hervor.
Ich fing laut an zu lachen.
„Weshalb lachst du darüber?“, empörte sich Hannes. „Ein Glück, dass Konny dabei ist. Ich traue diesem Typ so ziemlich alles zu.“
„Blödsinn!“ sagte ich laut. „Der hat ein hieb- und stichfestes Alibi, was Knut betrifft. Leider.“

Nachdem Hannes die Erdbeeren verputzt hatte, spazierten wir um den Lachauer See.
Hannes, der seinen Arm um meine Schultern gelegt hatte, erzählte mir, dass er in Lübeck mit einem Mädchen befreundet gewesen sei. Leider wäre sie vor einem halben Jahr nach Frankfurt gezogen.
„Wie heißt sie und wie sieht sie aus?“, wollte ich wissen.
„Sie heißt Milena und sieht dir sehr ähn­lich“, gab Hannes freimütig Auskunft.
„Steht ihr noch im Briefkontakt?“
„Hin und wieder“, seufzte er. „Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass unsere Briefe gezählt sind. Aus den Augen, aus dem Sinn.“
Das meint sogar die gute Tante Selma, die Treuherzigkeit in Person. Aber wir beide sehen uns doch ganz bestimmt im nächsten Jahr wie­der, nicht wahr, Katja?“, fragte er und sah mich fast ängstlich an.
„Falls mich der Maskenmann nicht vorher umbringt“, sagte ich leichthin und fügte, weil dieser Gedanke mir plötzlich unerträglich war, hinzu: „Dann lernst du auch endlich Christine kennen.“
„Ach ja“, seufzte Hannes. „Deine beste Freundin, Christine, Stine. Ist sie wenigstens hübsch?“
„Bild­hübsch“, versprach ich ihm, liebe Christine. „Also streng dich ein bisschen an und geh mal wieder joggen, sobald dein kranker Fuß nicht mehr schmerzt.“
***
Am nächsten Morgen weckte mich ein gellender Schrei. Ich fuhr wie von der Tarantel gestochen im Bett hoch, kämpfte mich aus einem ohnmachtsähnlichen, traumlosen Schlaf und rieb mir die Müdigkeit aus den Augen.
„Katja, Katja! Sieh dir das an!“
Leni war schreiend die Treppe hoch­gepoltert und rüttelte an meiner Türklinke. Ich hatte gestern Abend vorsichts­halber abge­schlossen. Weshalb, wusste ich selbst nicht so genau. Irgendwie be­schleicht mich jedes Mal ein ungutes Gefühl, wenn Helge im Haus weilt. Möglicherweise bilde ich mir das auch nur ein, Christine. ,Einbildung ist auch 'ne Bil­dung', pflegt Mutti zu sagen, wenn meine Fantasie ihr auf die Nerven geht.
Aber jetzt befand sich Leni, die zweite Dame des Hofes, zweifelsohne in großer Not.
Was ist jetzt schon wieder passiert?, dachte ich er­schöpft, zog mir in Windeseile meinen Trainingsanzug über und öffnete die Tür.
Leni heulte wie ein Schlosshund. Tränen in der Größe von Weintrauben kullerten über ihre faltigen Wangen.
„Ich hab damit nichts zu tun. Das musst du mir glauben, Katja. Ich hab nichts mit dieser furchtbaren Sache zu tun. Du musst mir das einfach glauben“, stammelte der sanfte Her­renhaus-Drache unter herz­zerreißendem Schluchzen.
„Womit hast du nichts zu tun, Leni?“, fragte ich geistesabwesend und sah verstohlen auf meinen Wecker. Es war halb fünf. Leni war wohl heute Morgen aus dem Bett gefallen. Hoffentlich hatte sie nicht wieder eine schlaflose Nacht verbracht.
Unsere Leni antwortete nicht, Christine. Wortlos sah sie mich todtrauri­ger Miene an und bedeutete mir, ihr zu folgen.
„Leise“, beschwor ich sie. „Du weckst Frau Brandner und Herrn Kröger auf.“
„Axel ist schon seit einer Stunde im Kuhstall und hilft Heiner beim Melken. Das Reinigen dieser dämlichen, neumodischen Melkmaschine dauert fast länger als das Melken von Hand. Aber dass der Axel das nicht gesehen hat! Aber nee auch, so was Gemeines. Ich habe damit nichts zu tun“, heulte Leni wieder los.
Die Sache versprach interessant zu werden – nicht allein für mich, sondern auch für die kranke Christine, der ich aufregende Ferien versprochen hatte, liebe Christine.
Was, glaubte Leni, hatte der neue Gutsinspektor übersehen? Meine Ungeduld saß bereits auf dem höchsten Gipfel der Zumutbarkeit, und ich fühlte mich durch Lenis hysterisches Schluchzen bis zum Zer­reißen genervt.
Wir durchquerten die Küche und das Herrenzimmer und liefen über die Veranda auf den Hof.

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