Fortsetzung von Donnerstag, d. 24.11.2016; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes 1. Fall, ein Krimi

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Es mag sich grotesk anhören, ich selber hätte es nie und nimmer für möglich gehalten, aber während der letzten Sekunden, in denen ich noch einigermaßen klar denken konnte – den Tod vor Augen - und den Würgegriffen Marcs, der sich alle Mühe gab, mich ins Jenseits zu befördern, vollkommen hilflos ausgeliefert -, grübelte ich über Kollbergs Hund nach, dessen heftiges Bellen die gruselige Stille zerriss. Ich hatte mir den Namen des Dobermanns nicht gemerkt – und das ärgerte mich in den vermutlich letzten Sekunden meines Lebens ganz gewaltig.

'Sancho', fiel mir ein. - Sancho, das war doch … so hieß doch der Stallbursche von Don Quichotte, Sancho Panza. Und wie hervorragend das zu meiner Situation passte! Wie die oft zitierte Faust aufs Auge (ein unschöner Vergleich, wo und wann auch immer er herangezogen wird, wenn Sie mich fragen): Ja, auch ich war unter Marcs erbarmungslosen Händen zu einer traurigen Gestalt verfallen. -

'Sancho' bellte wie ein Verrückter. Das Gebell näherte sich wie ein Sturm, drang durch das Dickicht wie eine Fanfare, und ehe ich weiterfantasieren konnte, stürmte der brave Hund den Apfelgarten. - 'Napoleon räumt auf', schoss mir ins Hirn. Der Titel eines Buches, das ich kürzlich gelesen hatte. - Auch Napoleon war ein Hund, ein Bernhardiner allerdings, der eine Jugendbande, die sich aufs Erpressen deutlich jüngerer Mitschüler spezialisiert hatte, auffliegen ließ, bevor „meine Kollegen“ den Fall aufgeklärt hatten.
Marc war nach wie vor eifrig damit beschäftigt, mir die Gugel zu zerquetschen; aber mit einem Mal lockerte sich sein Griff, als hätte eine gute Fee sich seiner elenden Gedanken bemächtigt, und ich sank wie ein nasser Sack ins Gras.
'Weshalb 'Sancho', der korrekt 'Santo' hieß, wie ich wenig später von Kollberg erfuhr, mich völlig ignorierte und sich in Marc verbiss, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich verstehe nicht allzu viel von Hunden aus dem Tierreich und hätte mir diesen Umstand schon längst von einem Kollegen der Hundestaffel erklären lassen, aber es gab bislang wichtigere Dinge zu klären.
Nichtsdestotrotz hieß und heißt der absolute Held meines restlichen Lebens 'Santo'. Santo, der Dobermann, der mich vor dem Würger gerettet hat in jener Nacht, die wie ich bereits im Sterben begriffen war und mich beinahe mit sich gerissen hätte.
Dobermann Santo: nicht ganz so attraktiv wie 'Lassie', mein Chef, aber mindestens ebenso taff.

Als ich nach einer knappen Stunde aus der Ohnmacht erwachte, befand ich mich im Spital, im Weidenbacher Kreiskrankenhaus, wie ich nach einem flüchtigen Blick aus dem Fenster feststellen konnte. Den Schwanenpark, eine Abkürzung, durch deren Dunkelheit ich im Winter wie eine Gejagte geflitzt war, weil ich anderenfalls von meiner Freundin zu spät nach Hause gekommen wäre, werde ich niemals vergessen. Einige der uralten, kirchturmhohen Bäume, die im Schatten ihr einsames Dasein fristeten, waren mir ans Herz gewachsen – mehr, als es jemals ein Spielzeug vermocht hätte.
Ich befand mich in einem dieser elektrisch betriebenen Klinikbetten - halb liegend, halb sitzend. Mein Kopf ruhte an einer breiten Brust, und als ich meine Augen himmelwärts richtete, blickte ich geradewegs in Jensens breites Gesicht, dessen Mund mir zulächelte.
„Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen, Jensen?“, krächzte mein wunder Hals.
„Adam“, klärte Jensen mich auf.
„Sie haben Glück gehabt, Merane, dass dieser Dobermann auf sein Herrchen gehört hat. Kollberg wähnte Sie zu Recht in großer Gefahr und hat bei uns auf der Wache angerufen. Schließlich hat er seinen Hund in den Garten geschickt , weil es ihm zu lange gedauert hat, bis ich eintraf. Obwohl ich wie ein Irrer durch Weidenbach gerast bin und um ein Haar einen Betrunkenen umgefahren hätte. Und wie es ausschaut, hat 'Santo' den Richtigen erwischt und nicht Sie, leichtsinnig, wie Sie waren – in den Apfelgarten zu schleichen, worin vermutlich ein Mörder gelauert hat - anstatt einen Streifenwagen anzufordern. Sie können froh sein, dass Sie aufgrund des Würgens keinen Hirnschaden davongetragen haben.“
„Sind Sie sicher, Jensen?“, fragte ich.
„... machen auch noch Witze darüber. Sie haben Nerven!“
Er schüttelte den Kopf.
„Sie sind wie Keppler, Merane: ignorant und unbelehrbar. Immer alles auf eigene Faust angehen und bloß niemanden einweihen.“
Er hielt mir einen Spiegel vors Gescht. Mein Hals war rot und geschwollen, man ahnte bereits die Blutergüsse, und auf der rechten Seite hatte ich einen ca. vier Zentimeter langen Kratzer, der vermutlich von einem Fingernagel stammte – Marcs Fingernagel.
„Hätte zu lange gedauert, Adam ... Sie erst großartig einzuweihen. Inzwischen wäre der Würger längst abgehauen.“, sagte ich. Meine Stimme hörte sich rau und schwach an.
„Haben Sie den Kerl erkannt, Merane?“
„Ja“, hauchte ich. „Es war Marc Keppler.“ -
Ich konnte meine Tränen nicht mehr aufhalten. Sie strömten über mein Gesicht wie die Niagarafälle in den Fluss und wollten nicht versiegen.
Jensen ließ mich einen Moment lang los. Sein verdattertes Gesicht werde ich mein Lebtag nicht vergessen – und auch nicht, was danach geschah:
Die Tür sprang plötzlich auf und 'Lassie' betrat das Krankenzimmer – und hinter ihm marschierte, wie selbstverständlich, Marc Keppler, der Würger. - Ich schrie, wie ich noch niemals im Leben geschrien hatte. Ich hörte nichts mehr, ich sah nichts mehr – ich schrie nur noch, schrie und konnte nicht mehr damit aufhören. Adam Jensen soll gesagt haben:
„Ich kann das erklären – Merane glaubt, Keppler habe sie bis zur Ohnmacht gewürgt.“

Ich sah nicht, dass Marc vor Schreck den Rosenstrauß fallen ließ, den er mir hat überreichen wollen; ich sah nicht, dass 'Lassie', der mir blind vertraute, Handschellen aus irgendeiner Tasche zauberte, ich hörte weder das Klicken, als er seine Dienstwaffe entsicherte, noch Marcs wütenden Protest. Ich schrie ...
Adam gab mir eine Ohrfeige und sagte in einem Tonfall, der unbeschreiblich ruhig und gelassen klang: „Ist ja gut, Merane. Wir glauben Ihnen jetzt, dass Sie Marc Keppler im Apfelgarten gesehen haben. Fragt sich nur, welchen. Der Würger muss eine erhebliche Bisswunde davongetragen haben. Marc Kepplers Beine scheinen jedoch völlig intakt zu sein; außerdem hat er, wie es scheint, ein Alibi; er war bis nach Mitternacht im 'Break Even' und hat sich einen angesoffen, weil sie ihn des Mordes an Brenda bezichtigt hätten. Merane, denken Sie nach, hatte der Mörder „eine Fahne“?
„Nein“, sagte ich. „Aber die könnte sich Keppler auch nachträglich angesoffen haben. Es war fast vier Uhr, als ich den Zeugen Kollberg aus dem Schlaf gerissen habe. Und woher wollen Sie wissen, dass Keppler im 'Break Even' war? Können Sie hellsehen, Jensen?“
„Nein, Merane“, giftete Jensen. „Aber Nielsen saß eine Weile neben Keppler an der Bar und hat es mir erzählt, bevor ich zum Finstergang aufbrach.“
„Seit wann betrinkt ihr euch, bevor ihr zur Schicht geht? Was sind das für Zustände hier in Weidenbach?“, fragte ich wütend.
Stefan grinste zufrieden.
„Die Wunde, Nora“, sagte Marc, „ich habe nicht den geringsten Kratzer am Bein; wäre es nicht doch möglich, dass du durch das Würgen einen leichten Schaden davongetragen hast?“
„Raus, Keppler!“, blökte 'Lassie'. „Raus, aber dalli!“
Marc gab den Rosen auf dem Linolboden einen Tritt und verließ den Raum.

„Wie lange hast du keinen Schlaf mehr gehabt, Nora?“, fragte 'Lassie' und sah mich besorgt an.
„Lediglich letzte Nacht nicht, Stefan“, sagte ich. „Ich bin klar bei Verstand. Wenn Marc es nicht war, dann hat er einen Doppelgänger, beziehungsweise muss es jemanden geben, der ihm verdammt ähnlich sieht. Vergiss bitte nicht: Es war dunkel – und obwohl ich nur für den Bruchteil einer Sekunde die Taschenlampe auf ihn richten konnte, ist mir nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass es sich nicht um Marc Keppler handeln könnte. Auch die Körpergröße war nahezu identisch. - Wie sieht Kepplers Bruder eigentlich aus?“
'Lassie' schaute Jensen an, der den Kopf schüttelte. „Kepplers Bruder hat kaum Ähnlichkeit mit Marc. Er ist gut einsachtzig groß und korpulent.“
„Woher wissen Sie das, Adam?“, fragte ich.
„Er hat Keppler mal auf der Wache besucht und sich vorgestellt.“
„Kann fingiert gewesen sein – auf lange Sicht geplant“, sagte ich.
„Nein, Nora“, widersprach Jensen. „Ich weiß definitiv, dass es sich bei jener Person um Kepplers Bruder gehandelt hat.“
„Dann gibt es eventuell ein Familiengeheimnis, von dem Marc nichts weiß“, sagte ich.
„Möglich“, sagte Lassie. „Wir haben Blutspuren im Gras gefunden. Und dieser Hund, wie hieß der nochmal ... 'Sanchos', 'Santos'?, hat eine Trophäe ergattert, ein Stück Jeansstoff mit Blutanhaftungen. In wenigen Stunden wissen wir mehr.“

Als mein „Besuch“ sich verabschiedet hatte, weil ich mich nicht länger aufregen durfte, gab mir die Stationsschwester eine Spritze gegen die Schmerzen am Kehlkopf und ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. - Jensen ließ es sich nicht nehmen, vor der Zimmertür Wache zu halten - bis Nielsen käme, der ihn ablösen wollte. Das hatte mich nicht nur zusätzlich, sondern auch ganz enorm beruhigt. Ich wusste nicht, weshalb, aber ich vertraute Jensen – mehr jedenfalls als Marc.

Es war taghell, als ich die Augen aufschlug. Auf meinem Nachttisch verströmten Marcs Edelrosen, die in einer hohen weißen Vase steckten, vermutlich hatte die Nachtschwester sich ihrer erbarmt, einen betörenden Duft. Ich hob meinen Kopf vom Kissen und verzog das Gesicht: Jede Bewegung schmerzte nach wie vor heftig.

Marc stand in kurzen Sporthosen neben Jensen im Krankenzimmer und zeigte mir demonstrativ seine Waden.
Sie waren leicht gebräunt und völlig unverletzt. Ich konnte nicht den kleinsten Kratzer erkennen.
„Wir haben das Ergebnis der Blutspuren im Apfelgarten, Nora“, sagte Jensen. „Das DNA-Profil weist nicht die geringste Ähnlichkeit mit Marcs Blut auf. Bei dem Würger handelt es sich weder um Marc noch um einen Verwandten."
„Habt ihr auch einen Abgleich mit Brendas Blut gemacht?“, fragte ich.
Marc runzelte die Stirn.
„Selbstverständlich“, sagte Jensen. „Es handelt sich auch nicht um Brendas Blut. Das Blut im Apfelgarten, das wir an jener Stelle gefunden haben, an der du gewürgt worden bist, stammt von einem Fremden. Wir haben in der Datenbank keinen Treffer erzielen können.“
„Danke, Adam“, sagte ich.

Marc grinste mich triumphierend an. Es schien ihm prächtig zu gehen, obwohl ich nach wie vor der Meinung war, dass er als „Würger vom Apfelgarten“ in die Weidenbacher Geschichte eingehen würde.
„Habt ihr die Nachbarn von Brenda vernommen“, fragte ich. „Irgendjemand muss doch gehört haben, wie sie abgeschlachtet wurde."
„Es war an jenem Abend niemand weiter im Haus, Nora“, sagte Marc. „Kalle, ein ehemaliger Kollege, der neben Brendas Wohnung haust, hat mir erzählt, dass zwei Häuser weiter eine Silberhochzeit gefeiert wurde, zu der fast alle Nachbarn eingeladen waren.“
„Und weshalb war Brenda mal wieder nicht dabei?“
„Ich glaube kaum, dass Brenda Lust gehabt hat, daran teilzunehmen. Soweit ich informiert bin, ist sie ungern irgendwo hingegangen, höchstens mal ins 'Break Even' um die Ecke, wo ich sie mehrmals angetroffen habe. Aus Feten hat sie sich meines Wissens nichts gemacht. Sie hat viel gelesen und war gebildeter als die meisten Menschen, die ich kenne. Allerdings habe ich in ihrem Fotoalbum, das ich mir gestern Nacht noch einmal angeschaut habe, etwas ganz Merkwürdiges entdeckt.“
Jensen hob den Kopf und blickte Marc neugierig an. Gleichzeitig erweckte er den Eindruck, als sei er bei irgendetwas ertappt worden.

Über Marcs Gesicht lief ein Schatten. Ich hatte den Eindruck, dass er Adam und mich keine Sekunde lang aus den Augen ließ, als hätten wir uns gegen ihn verschworen.
Er zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans und öffnete sie.
„Erlaubst du, dass ich an dein Bett trete, Nora?“, fragte er. „Ehe du wieder zu schreien beginnst … aber dein Adam weilt ja in der Nähe, um dich zu trösten.“
„Bleiben Sie sachlich, Keppler“, sagte Jensen. „Ich bin glücklich verheiratet.“
„Ach“, sagte Marc. „Hast du das gewusst, Merane?“
„Klar“, sagte ich. „Hat Adam mir gestern Nacht erzählt. Aber das stört uns beide nicht, nicht wahr, Adam?“ - Ich grinste Jensen an und er grinste zurück.
„Dir geht es ja schon wieder fantastisch, Nora. Ihr beide wollt mich wohl veräppeln?“
„Rück schon raus mit deiner großen Überraschung, Marc. Wir sind ganz Auge und Ohr“, sagte ich und setzte mich mühsam auf.
Er wühlte eine Weile in seiner Brieftasche umher und förderte schließlich ein Schwarz-Weiß-Foto zutage, das er wortlos neben mein Kopfkissen legte. Jensen trat an mein Bett; auf seinem sonst nahezu ebenmäßig hellen Teint blühten mit einem Mal rote Flecken; er schien aufgeregt; aber bevor er sich die Fotografie, die ganz offensichtlich älteren Datums war, näher anschauen konnte, riss ich sie an mich, warf einen Blick darauf – und erstarrte.
Marc hatte mich die ganze Zeit im Auge behalten.
„Ist dir gar nicht nach Schreien zumute, mein mutiges Apfelgarten-Herzblatt?“, fragte er. „Hat es dir die Sprache verschlagen? Schau mal auf die Rückseite, da steht was geschrieben.“

Fortsetzung folgt am Dienstag, den 29. November 2016

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