TÄGLICH 500! - Tag 2

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Tag 2 - Kapitel 1 - Heimat

Zwischen dem Erzgebirge und den Karpaten befand sich einst der schmalste Grat der Geschichte, der scharf wie ein Schwert, das ehemalige Band zwischen Menschen und ihrer Heimat zerschnitt. Ein Volk, das sich nun, besiegt und vertrieben, vor schonungslosen Rachegelüsten einer blutrünstigen Nation zu rechtfertigen hatte. Und wer sich immer noch zu fliehen weigerte, fand lediglich den Tod auf eigenem Boden. Viele fanden ihn jedoch auf der Strecke, zwischen Sudeten und dem vom Krieg zerstörten und in Flammen stehenden Deutschland. In diesem Sommer war selbst die Hitze unerträglich. So trugen die Menschen nur das bisschen Hab und Gut, das sie auf ihren knöchernen Schultern unter Klagen beschwerlich zu schleppen fähig waren. Das Leben der Menschen drehte sich von da an nur noch um ein Stück Brot, ein Fetzen sauberes Gewand oder den Einfallsreichtum, sich auch aus den am Wegesrand aufgesammelten Dingen etwas Schönes machen zu können. Alles andere rissen die neuen Eroberer an sich, die aus ihrer Abscheu gegenüber allen Deutschen heraus, dahin zurückkehren wollten, wo einst das Unrecht auf ihre Kosten lebte. Unter ihnen fand man auch eine Familie aus Schlesien wieder. Vater, Mutter und Kind, die mitansehen mussten, wie Väter, Mütter und Kinder verhungerten, aus Erschöpfung zusammenbrachen und fern ihrer Heimat das Grab im Nirgendwo fanden. Es zog sie in ein Gebiet, das später als DDR bekannt und das neue Kapitel ostdeutscher Geschichte wurde. Diese Geschichte, die sie nicht nur am eigenen Leib mitzuerleben, sondern auch teils mitzuverfassen hatten. Der Beginn einer wiedervereinigten Zukunft, die noch einige Jahre und etliche Leben hat fordern sollen. Was Familie Bahlow betraf, so sollte zumindest Hans, ihr einziger Sohn, es eines Tages besser haben. Doch der Tageslohn des Wiederaufbaus reichte kaum für das Nötigste und noch war Hans viel zu jung, um das ganze Ausmaß dieser misslichen Lage und die Bedeutung dieser Wende wahrnehmen und auch verstehen zu können. Dass sie jedoch gesund und am Leben waren, konnte man als die glücklichste Fügung ihres Schicksals betrachten. Die Entwicklung der neuen östlichen Republik steckte in den Kinderschuhen und ihr langsames Wachstum sollte sie diese auch noch lange tragen lassen. Fabriken wurden demontiert und deportiert, Menschen enteignet und ihre Landschaften okkupiert. Das einzige was an Zuwachs gewann, war der Tauschhandel und Schwarzmarkt der Armut, der in den zerbombten Gassen und Straßen der Städte wie Unkraut erblühte. So scheiterte man letzten Endes am Versuch, sich in einer Welt aus Schutt und Asche zurechtzufindend und zu einstiger Sesshaftigkeit zurückkehren zu können. Für Peter Bahlow, Vater und Heimkehrer, schien die Situation gar so aussichtslos, dass nur der Selbstmord sein Leiden hätte lindern können. Als seine Frau Michaela ihn dort zwischen brüchigen Holzbalken hat hängen sehen, war Hans von nun an der letzte Halt, an dem sich ihr Lebenswillen zu krallen versuchte. Aus ihrer Verzweiflung heraus entschied sich Michaela sogar, ihren Körper den Besatzern als Dienstleistung anzubieten. Und neben den vielen Männern, hatte Michaela auch die Tatsache hinzunehmen, dass unter schwarzen Schafen auch noch Wölfe zu verweilen schienen, die nicht bloß nur das Geld einbehielten, sondern auch mit Schlägen und Tritten die Vergütung bezahlten. War es jedoch die einzige Möglichkeit, ihrem Sohn das zu ermöglichen, was er so dringend nötig hatte: Heimat.