Jetzt also zog auch „Jupp“ bei uns ein in unsere kleine Wohnung in der Eichendorffstraße. „Jupp“, der eigentlich Josef hieß, von Mama immer zweisilbig gerufen wurde „Juu-upp!“, von mir ab jetzt „Papa“ genannt und von Oma Anni gar nicht direkt angesprochen. Wenn sie etwas von ihm wollte, sagte sie zu meiner Mutter gerne „Sag ihm mal ...“, was diese dann tat. Eigentlich war er ja doch ganz nett. Tagsüber war er sowieso nicht da, Mama auch nicht, denn beide arbeiteten. Und wenn ich aus der Schule kam, war – wie immer – Oma Anni im Haus. Es lief also weiter wie bisher.
Ich habe keine Erinnerung daran, wie die Schlafsituation verteilt war, aber ich glaube, dass „meine Eltern“ im Wohnzimmer schliefen, denn das Sofa war ein Schlafsofa und so konnten sie weiter aufbleiben, wenn ich zum Schlafen nach nebenan geschickt wurde, jedenfalls klingt mir das logisch. Dann hätten Oma Anni und ich im selben Bett geschlafen. Das klingt zwar logisch, rückblickend aber nicht angenehm, wird dennoch wohl so gewesen sein, war ja sonst kein Platz da.
Das Nächste, an das ich mich erinnere in der Eichendoffstraße, war, dass meine Schwester geboren wurde. Und zwar als Hausgeburt auf eben diesem Sofa im Wohnzimmer. Eine lebende Babypuppe. Ich hatte selber auch eine geschenkt bekommen, eine ganz fortschrittliche. Mit Puppen gespielt habe ich eigentlich nie wirklich. Mein Liebling und Seelentröster war immer mein geliebter Teddy „Bulganin“. Dann hatte ich noch eine Schildkrötpuppe „Christa“, die immer stocksteif rumsaß und von Oma Anni Taft- und Tüllkleidchen genäht bekam, mit der man leider nicht knuddeln konnte, die dafür aber Schlafaugen hatte.
Und dann plötzlich hatte ich diese ultramoderne Babypuppe bekommen. Die hatte sogar einen Kopf aus grauem, aber fleischfarben angemaltem Gummi. Und man konnte sie „füttern“ (Wasser einflößen mit dem entsprechenden Fläschchen) und Pipi machen konnte sie auch. Rückblickend nehme ich an, das war in psychologischer Vorbereitung auf mein neues Geschwister, denn eigentlich war eine solche Puppe viel zu teuer für uns. Ich war die Einzige in all den Blocks, die so eine Puppe hatte.
Später gab es mal eine Fastenaktion vonseiten der Kirche, an der auch unsere Gemeinde sich beteiligte. Ich war damals zwölf (wir wohnten schon in der Moltkestraße). Dabei ging es darum, dass Kinder lernen sollten, Opfer zu bringen. Also wurde um Ostern herum dazu aufgerufen, dass Kinder ihr Lieblingsspielzeug abgaben für Kinder, die keines besaßen.
Ich hatte als Zwölfjährige schon 60 eigene Bücher und alle gelesen und manche davon sogar mehrmals. Mein Lieblingsbuch war „Der Teufel tanzt im Ju-Ju-Busch“ (der Inhalt war das Wirken von Freundschaft im Gleichklang, auch über von Äußerlichkeit und Ethnie gesetzte Grenzen hinweg – ein faszinierendes Thema). Wir Kinder hatten außerdem immer vollkommen freien Zugriff auf den Inhalt des wunderschönen alten Bücherschranks, der in der Moltkestraße vollgestopft bis unters Dach im Flur stand und jetzt bei mir in ebensolcher Funktion als Schmuckstück im Wohnzimmer. Es gab da nur die einzige Bedingung, das Gelesene wieder zurückzustellen. Auch von diesem Leseangebot hatte ich schon reichlich Gebrauch gemacht.
Es hieß, wir sollten unser Lieblingsspielzeug abgeben. Für mich war eindeutig das oben erwähnte Buch mein „Lieblingsspielzeug“ ("Bulganin" war außen vor, denn das war ja mein Lebensgefährte, der stand gar nicht zur Diskussion, außerdem war er schon recht abgeliebt). Aber was kann ein Kind in einem fremden Land schon mit einem deutschsprachigen Buch anfangen (Gott-sei-Dank) ...
So war es für mich keine Frage, die Baby-Puppe abzugeben, immerhin war das ein Prestige-Spielzeug, aber – obwohl Verzicht – fiel mir dieser deutlich leichter als das bei dem Buch der Fall gewesen wäre.
Und dann stand an dem Sonntagmorgen meine Mutter vor mir: „Was gibst du denn ab?“ Ich hielt ihr die Baby-Puppe hin. „Soo“, sagte sie langgezogen. Sie schaute mir ganz tief in die Augen. „Und du bist SICHER, dass das dein LIEBLINGSspielzeug ist.“ Ich nickte, mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Sie stierte mich förmlich in Grund und Boden: „GANZ sicher?“ Ich zögerte, dann siegte das schlechte Gewissen. Ich legte die Puppe weg und holte das Buch. Zufrieden zogen meine Mutter und meine Großmutter mit mir und meinen Geschwistern ab in die Kirche.
Und ich SCHWOR mir: „Wenn ich groß bin und eigenes Geld habe, dann kaufe ich mir SOFORT dieses Buch wieder!“
Bis es dazu kam, sollten noch doppelt so viele Jahre ins Land gehen, wie ich damals alt war. Als ich dann nach etlichen Schicksalsverwerfungen mich auf die Suche machte, gab es diesen Titel nicht mehr. Selbst, als ich den Verlag herausbekommen hatte und ihn anschrieb, ob es denn nicht vielleicht noch irgendwo ein versprengtes, übriggebliebenes, evtl. fehlerhaftes Exemplar gebe, war das erfolglos, weil der Verlag mich nicht einer Antwort für würdig erachtete.
Wohl bei einem Arztbesuch fiel mir eine Frauenzeitschrift in die Hände (ein Genre, das ich normalerweise nicht lese) und darin war ein Aufruf an solidarische Leserinnen von suchenden anderen, dieses oder jenes – falls vorhanden – doch bitte zu schicken oder zu verkaufen. Mein Buch fiel mir wieder ein. Verlieren konnte ich nichts, also schrieb ich eine entsprechende Objektsuche an diese Zeitung.
Nach einem Dreivierteljahr - ich dachte schon nicht mehr daran - bekam ich zwei Zuschriften auf einmal von unterschiedlichen Leserinnen, die genau dieses Buch bei sich gefunden hatten und es mir kostenlos schicken würden, falls ich immer noch Interesse hätte.
Und OB ich hatte! Ich schrieb beiden, der einen, dass ich es gerade im Moment angeboten bekommen hätte, der anderen, einer Omi, die das beim Aufräumen auf dem Dachboden gefunden hatte, dass ich mich sehr freuen würde.
Und so bin ich seit einigen Jahren wieder im Besitz meines so sehr geliebten Buches, das abgeben zu müssen mir damals wirklich fast mein Kinderherz gebrochen hat.
Es hat nichts von seiner Faszination verloren.
noé/2014