Schokolade - und (k)ein Ende

Bild von Monika Laakes
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Bei seiner Seele, er aß nun mal die Schokolade weg wie ein Stück Brot oder wie eine schmackhafte Kümmelkartoffel, er zog sie sich schmatzend durch seine schmalen Lippen. Die elektrische Schreibtischuhr leuchtete 20:00 und bald darauf 20:01. Wotan Bolster räkelte sich in einem eigens für ihn gefertigten, körperschnittigen Ledersessel. Er starrte gedankenverloren auf das leere Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch vor seinen Augen verschwamm und eine wolkenähnliche Fläche in seinem Inneren bildete, eine Fläche, auf der eine weiße, üppige Rubensgestalt hingegossen lag. Wotan schob einen Riegel Schokolade nach und faltete die Hände über seinem Leib.
Wo mochte sie jetzt nur sein?
Gegen 17.00 Uhr hatte er seine Frau Denies zum Flughafen gebracht.
"Du brauchst nicht zu warten", bemerkte sie und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen braunen Haare.
"Selbstverständlich warte ich", brummte er und tänzelte auf die Cafeteria zu.
"Eine Stunde Wartezeit", meinte sie, "da haben wir genug Zeit für eine Tasse Kaffee."
Nun saßen sie sich an kleinen Tischen gegenüber und sahen aneinander vorbei. Er schlürfte seinen Espresso, sie nippte mit gespreiztem, kleinen Finger ihren Kaffee. Ab und zu tönte der Lautsprecher durch die Halle, und eine schnarrende Frauenstimme drang bis in die hintersten Ecken vor.
"Schön, dass wir noch so viel Zeit haben", sagte Denies während sie sich eine Zigarette anzündete. "Du weißt, montags kommt Frau Mantau und besorgt den Haushalt. Wenn Du willst, kommt sie auch freitags, um Einkäufe zu tätigen", fügte sie noch hinzu.
"Mach Dir nur keine Gedanken, ich komm schon zurecht."
Sie saßen, redeten miteinander und schauten aneinander vorbei. Er kannte sie seit nahezu dreißig Jahren. Ihre kleine, drahtige Gestalt, die durch regelmäßiges Reiten und Schwimmen immer noch eine jugendliche Festigkeit aufwies, ihr teures Gesicht, gebräunt durch den regelmäßigen Besuch im Fitness-Center, gepflegt von edlen Salben. Hübsch muss es schon gewesen sein, eine etwas zu lang geratene Nase, Augen, in denen Glanz und Spott eine reizvolle Partnerschaft eingingen. Und doch war der Mauscharakter dieses so eigenwilligen Gesichtes nicht zu übersehen.
"Hast Du auch an alles gedacht? Pass nur auf Deine Papiere auf. lmmer die Handtasche im Auge behalten", mahnte er und lehnte sich zurück. Dabei spannte sein Hemd über dem rundlichen Leib, dessen Form sich der eines voluminösen Hotei anzunähern versuchte.
"Es ist nicht meine erste Reise", entgegnete sie kühl, denn Reisen war eine ihrer großen Leidenschaften. Mindestens zweimal im Jahr packte sie rasch und routiniert ihre Koffer. Und gleich würde sie ins Flugzeug steigen, in München käme eine gute Freundin hinzu, und die kommenden Stunden würden, im wahrsten Sinne des Wortes, verfliegen. Einige Zwischenlandungen. Dann Peru.
Wo mochte sie jetzt sein?
Wotan hatte ihre Koffer noch zum Transportband geschleppt, sie kurz umarmt, eine gute Reise gewünscht und sie möge sich rasch melden, und war dann zu seinem Auto geschlendert. Von D. nach M. in 25 Minuıen. Dann die Nachrichten im Radio gehört, eine Tafel Schokolade aus dem Vorratsraum geholt, einige Male durchs Haus gelaufen, erneut in den Vorratsraum. Seine Frau hatte dort, sauber und exakt, ihre Vorräte gestapelt. Und im untersten Regal befanden sich 18 Tafeln Schokolade.
Sie wollte 21 Tage wegbleiben und hatte gut für diese Zeit gesorgt. Wotan griff emeut zu und ließ 16 Tafeln auf dem Regal zurück. Er setzte sich, wie so oft um diese Zeit, an seinen Schreibtisch, um einen Artikel zu schreiben. Er liebte dieses Zimmer, nannte es seine Eremitei. Wie er die Stille genoss, die seine Gedanken fließen ließ und ihm höchste Produktivität gestattete.
Doch an diesem späten Oktoberabend, wo sich der Wind in sämtlichen Ritzen des Hauses verfing, um zu pfeifen, zu zischen und zu heulen, nun war, außer den Gedanken an Denies und die Schokolade, nichts sonst in Wotans Kopf. Nun war Denies schon das vierte Mal alleine losgeflogen.
Amerika, Kanada, China. Ihre Begeisterung zeigte sich in der Ordnung ihrer Photoalben. Nach Tagen, Stunden, man konnte fast annehmen, nach Minuten des zur Zeit geschossenen Photos, exakt nebeneinandergeklebte Erinnerungen. Er hingegen, so behauptete er jedenfalls, hatte das Reisen satt.
Wotan griff zum Telefon und wählte eine Nummer.
"Ja, hier Mira Mondini", meldete sich eine weiche Frauenstimme.
"Guten Abend Mira, hier Wotan. Ich wollte nur mal Deine Stimme hören."
"Oh Wotan. Du erinnerst Dich an mich? Ist sie etwa wieder verreist'?" flötete die Stimme.
"Sei bitte nicht zynisch, Mira. Du kennst meine Situation. Also wann?"
"Wie lange bleibt sie weg?"
"Ungefähr drei Wochen."
"Ah, dann haben wir ja Zeit."
"Viel Zeit, Du Liebe", hauchte er ins Telefon und verdrehte verzückt die Augen.
"Also bin ich in einer Stunde bei Dir", raunte die Frauenstimme.
Klack machte der Hörer beim Auflegen.
Wotan Bolster betrachtete das weiße, unschuldige Blatt Papier, machte einige Striche mit dem vergoldeten Füllfederhalter, zog feine Bögen von blauer Tinte übers Papier, feine Bögen, feine Linien und hatte im Nu einige mächtige Busen gemalt. Zwischendurch einen Riegel Schokolade in den Mund geschoben, schwungvoll weiter gemalt. Ein Blick auf die Uhr. Der Artikel hatte Zeit, die Redaktion konnte warten, denn ein leitender Redakteur hat nun mal das Recht auf ein wenig Entspannung, um Fitness und Produktivität zu erhalten oder gar zu erhöhen. Wotan raste ins Bad. Im
Vorübergehen einen Riegel Schokolade in den nimmersatten Schlund geschoben. Dann zischte die Dusche mit hartem Strahl auf seinen leicht gerundeten Rücken. Und die Schokolade schmolz auf seiner Zunge, während er sich einseifte, den Schaum sorgfältig abspülte und nach dem Handtuch angelte. Emeut der Griff zur Schokolade.
"Bitte nur eine Tafel pro Tag", hörte er Denies' Appell vor dem letzten Händedruck. Nun, beim Bücken spürte er seinen Bauch als Druck auf den Magen, sogar auf die Lunge, der dann zu Beklemmungen und Luftnot führte. Er ärgerte sich, weil er den Bauch nicht wegzubekommen wusste.
Dieser Ärger wiederum weckte in ihm den Heißhunger auf Schokolade. So brach er, trotz guter Vorsätze und Versprechen, soeben die zweite an, denn eine pro Tag, so alleine mit Stress und Ärger und Stille im Haus, eine pro Tag bedeutete eine Zumutung.
Nun, das würde sich, dafür hatte er eben gesorgt, bald ändern. Mira, seine zuverlässige Freundin, würde seinen Schokoladenkonsum schon in Grenzen halten.
Wotan nahm ein Deo und Parfum vom gleichen herben Duft und zog die Wolke mit ins angrenzende Schlafzimmer. Emsig suchte er nach der schwarzen, elastischen Wäsche, die er sich für derlei

Veröffentlicht / Quelle: 
1990 in Bolero und Peitsche

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Kommentare

27. Okt 2016

Ein Text, der schmeckt -
Spannung: perfekt!

LG Axel

27. Okt 2016

Diese subtil aufgebaute Spannung ist großartig. Der Bogen hält sich bis zum Schluss. Ich gestehe, während des Lesens bin ich in die Küche gegangen und habe mit ein Stück Schokolade geholt.
Herzliche Grüße, Susanna

27. Okt 2016

Die Kommentare gefallen mir sehr,
da fällt mir das Danken wirklich nicht schwer.
Merci an Axel und Susanna. Bitte nicht an der Schokolade verschlucken.
LG Monika

27. Okt 2016

Hat Spaß gemacht. Und Schokolade geht immer :-)

Liebe Grüße Lisi

27. Okt 2016

Hat Spaß gemacht. Und Schokolade geht immer :-)

Liebe Grüße Lisi

28. Okt 2016

Hat mir auch Spaß gemacht, Eure Kommentare zu lesen, lieber Alfred, liebe Lisi. DANKESCHÖN.
LG Monika
Auch bei allen, die geklickt haben, ein fettes MERCI.

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