Schokolade - und (k)ein Ende - Page 3

Bild von Monika Laakes
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den Boden im Umkreis von zirka zwei Metern, wohingegen er doch mit einem Loch von einem Meter im Quadrat hätte auskommen können. Wotan vermied jedes überflüssige Geräusch, und so war ein dumpfes Schlagen im Wechsel mit einem Scharren und Kratzen zu vernehmen. Dann ein Schleifen. Erneut das Scharren. Mit aufziehender Morgendämmerung war das Werk vollbracht. Wotan hielt sich den schmerzenden Rücken. Er hatte bis zuletzt versucht den Waldboden wieder in die alte Form zu bringen. Jedoch waren die frischen Spuren nicht zu beseitigen. Nun ging Wotan daran, Moos abzustechen und umzupflanzen, Gräser und kleine Sträucher umzusetzen, so dass die Pflanzen über das frisch eingegrabene Geheimnis hinwegwuchern konnten. Erschöpft schleppte er sich mit Hacke und Schaufel die zweihundert Meter zum abgestellten Auto. Der Waldparkplatz, angelegt für Wanderer, Naturbeobachter und Freunde der grünen Zunft, lag still und ließ das Herz Wotans vor Aufregung und Angst vor dem Entdecktwerden schmerzhaft pumpern. Er würde sich heute nicht in der Redaktion zeigen, nahm er sich jedenfalls vor und startete den Wagen.

Warum musste einem Mann seines Formats so eine Ungeheuerlichkeit passieren? Diese Mira Mondini, scheinbar eine vitale, vor Gesundheit strotzende Person, bläst über Nacht ihr kleines Seelchen aus, als wollte sie ihm damit noch einen Seitenhieb verpassen. Gerade in der letzten Zeit quoll sie schier über vor Sarkasmus und Bösartigkeit, schoss es Wotan durch den Kopf. Jede Kleinigkeit stieß ihm nun auf wie Galle. Ihr besonders spitzer Ton am Telefon. Und diese Umarmung voll gespielter Zuneigung mit dem missbilligenden Blick auf seinen schwellenden Bauchumfang. Dieses gezwungene Stöhnen während er sie koste und auf ihr herumtobte. Warum nur musste ihm soetwas zustoßen? Warum gerade ihm? Die Nacht hatte sie ihm schon vermiest, diese Herumwälzerei über Stunden, dieses Stöhnen und spontane Gelaufe ins Bad. Dann diese widerwärtigen Würgegeräusche und dieses Schnappen nach Luft hatten ihn schon gestört. Aber nun, dieses Davonmachen, wie hatte sie das nur arrangiert? Ein Selbstmord in seinem Haus, in seinem Zimmer, in seinem Bett, eine Ungeheuerlichkeit.

Wotan bog in die Garageneinfahrt ein und registrierte einen Lichtschimmer in seiner Küche. Kein Wunder, dass er in dieser Situation zerstreut sein musste. Wenn ihm nur nicht noch irgendwelche groben Fehler unterlaufen sind, ging es ihm durch den Kopf. Nach ein wenig Bettruhe würde sein Hirn wieder klar und einsatzfähig sein, dann würde er erst einmal sein Haus nach allen denkbaren und möglichen Miraspuren durchforschen, um sie endgültig aus seinem Leben zu tilgen.
Wotan schloss das Portal seiner Villa auf und schlurfte mit müden Schritten in die Küche. Da! Hatte er nicht etwas gehört? Was war das für ein Geräusch, dieses Rascheln oder Tappen über Papier? Wotan polterte nun entschlossen durchs Haus, um der Ungewissheit Herr zu werden.
"Wotan?" hörte er die Stimme Denies'. "Wotan, bist Du's?" kam es aus dem Vorratsraum.
"Was ist passiert? Wieso bist Du schon hier? Was machst Du hier?" ereiferte sich Wotan. "Du hättest noch eine Woche bleiben können, genau 21 Tage."
Denies' Heimkehr war überraschend und ungewöhnlich und hätte zu unangenehmen Komplikationen führen können.
"Wieso bist Du hier?" forschte Wotan mit unterdrückter Wut.
"Ich hatte solche Herzbeschwerden auf dieser Reise. Das war das erste Mal, dass mich mein Körper so drangsaliert hat", gestand Denies.
"Das ist mir neu, meine liebe Denies. Du hast ein schwaches Herz?" säuselte er.
Nun zog er ein Taschentuch hervor und betupfte seine Stirn. Dabei versuchte er angestrengt seine zitternde Hand ruhig zu halten.
"Ach, Du Armer, dass Du um diese Zeit noch unterwegs sein musstest."
Denies' Stimme dehnte sich wie ein quietschender, langgezogener Geigenton. Sie blickte unentwegt auf seine schlammbedeckten Schuhe.
Wotan horchte in die wohltuende Stille des Morgens hinein, und ein feines Zittern zog sich durch seine Schläfen. Ein feines Zittern ergriff sein Herz.
Wotan verließ den Vorratsraum und begab sich ins Bad, um anschließend in seinem zerwühlten Bett auf den Schlaf zu warten, den er in der Nacht hat missen müssen.
Wie lange mochte Denies schon im Haus gewesen sein? Was mochte ihr aufgefallen sein? Und was hatte sie nur im Vorratsraum gesucht? Wotan wälzte sich in seiner Bettkuhle, in der sich sein Schweiß unangenehm bemerkbar machte. Er hörte Denies' Schritte durchs Haus tappen. Und tapp, tapp, tapp machten seine Schläfen. Jedes Geräusch wuchs sich zu einem unerträglichen Lärm aus, der sich auf Wotans Körperfunktionen übertrug und in ihm widerhallte. ln seinen Schläfen hämmerte ein Presslufthammer, und sein Herz wurde von einer Rakete angetrieben. Während sich Wotan steil im Bett aufsetzte, schrie er:
"Denies!"
Als Denies das Schlafzimmer betrat, hatte sich Wotans Angst und Aggressivität in Potenz umgewandelt, da er zu der seltenen Spezies Mensch gehört, die soetwas zu leisten vermag. So wurde nun das Wiedersehen für Wotan ein Anlass zur Entspannung, und Denies übernahm ihre selten wahrgenommene Verpflichtung.
Eine Zeit der Ungewissheit kann sich zu einem malträtierenden Ungeheuer auswachsen. Wotans Gesundheitszustand hatte den Stand seiner instabilen Kindheitsphase erreicht, als Mumps, Keuchhusten und Masern sein Leben schwer machten.
Denies' prüfender Blick glitt auffällig oft über sein Gesicht und verursachte dort Zuckungen an beiden Augenlidern. Ihre Bereitschaft zu nächtlichen körperlichen Entspannungsübungen war erstaunlich groß und hatte den Zustand der ersten Jahre erreicht. Trotz Wotans grober Unbekümmertheit bemerkte er die ungesunde Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. Dieses Umherschleichen, diese Blicke aus den Augenwinkeln, diese gewollte Anteilnahme. dieses Säuseln in der Stimme. Wotan hatte sich gequält in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Warum nur stapelten sich in seinem Schreibtischschraıık diese Bücher? Bücher, die er sorgsam unter Verschluss hielt. Bücher zum Thema 'Giftvorkommen in der Natur' oder 'Giftverbreitung in der Umwelt, in Nahrungsmitteln und in lebenden Organismen' oder 'Psychologie berühmter Giftmischer'. Warum nur hatte er diesen wohl unbegründeten Verdacht? Ein Verdacht, der ihn bei Äußerung wohl lächerlich gemacht hätte. Zu seiner eigenen Beruhigung verzichtete er gänzlich auf den so sehr geliebten Schokoladenkonsum. Sein Bauchumfang hatte sich schon um einige Millimeter reduziert und somit funktionierte auch seine Atemtätigkeit besser. Wotan hatte sich das Kapitel Arsen vorgenommen, und es kam ihm vor, als hätte er nach langer Wanderschaft sein Ziel erreicht. Schwarz auf weiß war dort zu lesen: Die Wirksamkeit des angeblich geschmack- und geruchlosen Giftes, das heute immer noch verwendet wird, ist bei einer Dosis von einem halben Gramm absolut zuverlässig und führt natürlich zum gewünschten Erfolg. Leider lassen sich beim Toten sehr leicht Giftrückstände nachweisen. So ist auch diese Möglichkeit der Jenseitsbeförderung nicht vollkommen.
So saß Wotan an einem Dezemberabend über ein Buch gebeugt, und im Zimmer nebenan zündete Denies die zweite Adventskerze an. Ein Nieselregen vemochte so manchem die Vorweihnachtsstimmung zu rauben. Und unbemerkt von Wotans Blicken näherten sich zwei Fremde dem beleuchteten Portal der Villa. Und in die Stille der Nacht schnitt unbarmherzig der helle Ton der Haustürklingel. Auch diesmal gelobte Wotan, endlich die aufdringliche Klingel gegen eine melodiöse Dreiklangglocke auszutauschen.
"Wotan, zwei Herren von der Kripo möchten Dich sprechen", bemerkte Denies, während sie den Kopf durch die Tür steckte und eben so schnell wieder verschwand.
Die Fremden hatten eine aufgesetzte Höflichkeit und ihre Fragen und Ausführungen erhärteten Wotans Verdacht.
"Wir haben Frau Mira Mondini gefunden, Herr Bolster. Es ist uns, wie so oft, der Zufall oder, wenn man so will, das Glück zu Hilfe gekommen. Na, das war für den armen Kerl, der hinter seinem stöbernden Hund hergelaufen ist, schon ein Schock. Das können Sie uns glauben. Da hatte dieser tüchtige Hund durch seine Buddelei schon ein ganzes Bein freigelegt. Den Rest erledigten unsere Männer vom Morddezernat. Kein schöner Anblick. Hier, schauen Sie mal."
Der Fremde legte einige Photos auf den Schreibtisch, der von Wotan blitzschnell nach dem Klingeln freigeputzt worden war.
"Schauen Sie nur hin, Herr Bolster."
Wotan mochte keinen Nieselregen, der die Stimmung verdarb, Wotan mochte keinen Adventskranz, der an die Kindheit erinnerte, und Wotan verabscheute besonders diesen Tag, den 12. Dezember. Und nebenan im Zimmer saß Denies vor einer Tasse Tee, auf dem Tisch die brennenden Kerzen, den Duft von Weihnacht in der Nase, im Fernseher lief eine Familienserie, wie sie in der letzten Zeit, besonders zu so einer Zeit, gerne ausgestrahlt wurde, mit den hübschen Menschen und den hübschen Kleidern und den maßgeschneiderten Problemen, die ein jeder auf sich zu beziehen vemag. Und an so einem Tag hatte Wotan sein Ziel erreicht. Er wusste nun Bescheid.

Wotan Bolster saß nicht bei Brot und Wasser. Die Zelle war sauber, und das Essen bekam man mit gutem Willen und Überlebensdrang auch herunter. Wotan wartete auf seine Gerichtsverhandlung. Alle Indizien sprachen gegen ihn, und das hatte ihn keinesfalls überrascht. Es waren eindeutig Arsenreste in Haut, Haaren und Fingernägeln von Mira Mondini nachgewiesen worden. Das Faszinierende an dieser Vergiftungsart war für Wotan die Tatsache, dass es einige Leutchen in der Steiermark, die sogenannten Arsenikesser, durch eine dauernde Aufnahme kleiner Arsenikmengen zu einem wundervollen vorübergehenden Hautglanz gebracht haben, da das Arsen vor allem im Keratin der Haut gespeichert und dort auch über die Hautschuppen wieder abgestoßen wird. Wotan hatte die letzen Wochen über eine ungeheure Chance, seine verlorengegangene Sensibilität wiederzufinden. So konnte er den Fall rekonstruieren und Denies eine außerordentliche Bewunderung entgegenbringen. Für so clever hätte er sie nicht gehalten. Seine Frau Denies, eine Giftmörderin! Er hatte sie in der denkwürdigen Nacht in der Speisekammer überrascht. Ein Tappen und Rascheln, als huschten Mäuse über Papier. Wotan dachte an die Mehl- und Zuckertüten, die er zuvor in das Regal genau vor die Schokolade gestellt hatte. Und diese Tüten befanden sich nach seinem Hinzukommen nun in einem anderen Regal. Und der arg geschrumpfte Schokoladenstapel war anscheinend genau untersucht worden. Warum nur hatte ihn das nicht argwöhnisch gemacht? Sie hat ihm ihre Überlegenheit deutlich gezeigt. Die List der Frauen ist durch nichts zu überbieten, dachte Wotan. Wieviel Fingerspitzengefühl doch dazu gehört, die Schokolade so mit Gift zu präparieren, dass es für den Betrachter und Genießer nicht offensichtlich ist. Sie hatte es geschafft, die Packung wieder so herzurichten, dass ein solcher Verdacht nicht aufkommen konnte. Und wie sie es schaffte, das Gift während ihrer Abwesenheit zu verabreichen, das war nahezu genial.
Jedoch konnten diese Vermutungen nur durch das Geständnis Denies' erhärtet werden. Nur sie konnte Wotan Bolster entlasten. Aber woher wusste sie, dass ihr Opfer Mira Mondini, die Schokolade wirklich verspeisen würde? Herrje, wieso wusste sie überhaupt von Mira Mondini? Wotan, der bis dahin glaubte, seine kleinen Nebenaktivitäten unbemerkt genießen zu können, Wotan war nun eines besseren belehrt. Und trotz alledem war da noch etwas, das er sich nicht erklären konnte.
Warum nur brachte sie ihm auch jetzt noch bei jedem Besuch eine Tafel Schokolade mit? Wotan spezial, extra dick mit dem besonderen Schmelz auf der Zunge?
War doch klar, dass er nun dieselbe großzügig an seine Mitbewohner verteilte in der Hoffnung, es möge den Richtigen treffen und somit den Staat einiger Unterhaltspflichten entbinden.

Veröffentlicht / Quelle: 
1990 in Bolero und Peitsche

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Kommentare

27. Okt 2016

Ein Text, der schmeckt -
Spannung: perfekt!

LG Axel

27. Okt 2016

Diese subtil aufgebaute Spannung ist großartig. Der Bogen hält sich bis zum Schluss. Ich gestehe, während des Lesens bin ich in die Küche gegangen und habe mit ein Stück Schokolade geholt.
Herzliche Grüße, Susanna

27. Okt 2016

Die Kommentare gefallen mir sehr,
da fällt mir das Danken wirklich nicht schwer.
Merci an Axel und Susanna. Bitte nicht an der Schokolade verschlucken.
LG Monika

27. Okt 2016

Hat Spaß gemacht. Und Schokolade geht immer :-)

Liebe Grüße Lisi

27. Okt 2016

Hat Spaß gemacht. Und Schokolade geht immer :-)

Liebe Grüße Lisi

28. Okt 2016

Hat mir auch Spaß gemacht, Eure Kommentare zu lesen, lieber Alfred, liebe Lisi. DANKESCHÖN.
LG Monika
Auch bei allen, die geklickt haben, ein fettes MERCI.

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