Fernab vom Land der zwei Kirschmonden, wo jetzt Lilly am liebsten wäre, steht sie an der Reeling und starrt auf das inzwischen spiegelglatte Meer. Was wohl Tiefunten liegen würde? Das fragte sie sich. Als Pirat nach fetter Prise suchen und unter einer Morgenröte erwachen. Das war ihr Plan!
Die Schiffsglocke wippte vor sich hin und bimmelte so vor sich her. Inzwischen hatte sich die Nacht angekündigt. Irgendwie übermannte sie eine längst vergessen geglaubte Sehnsucht. Sie blickte nunmehr anders als sonst ins Weite; in der Hoffnung ein paar Delfine zu entdecken. Da sie nichts erkennen konnte und kein Delfin aus der Tiefe zur Oberfläche stieß, wandte sie sich wieder der Kombüse zu. Auf dem kurzen Weg dorthin, bemerkte sie Robbo. Das Halbkind stakte mehr über die Planken als es gehen konnte. Ihm sind die letzten Stunden noch sehr lebendig geblieben. Mit dem Käpt'n und Lilly auf der Insel..., die Harlekine..., der scheußliche Rum..., dieser schale Geruch..., das Gestampfe und Gekreische. Plötzlich hatte er es gespürt: In seinen Adern, zwischen seinen Fingern, auf der Haut, in seinem Kopf. Schließlich schloss ein kurzer Gedanke diesen Kreis aus Gefühl und Vorahnung. Schließlich war er ins Wasser gesprungen - mit Lilly und dem Käpt'n im Schlepptau. Zum Glück hatte sich der Schrecken gewendet. Und die wie wild tanzenden Harlekine fielen in den Tiefschlaf. Zurück blieb das Knistern und Flackern vom Lagerfeuer und die Irrlichter am Horizont. Sie durchstreifen noch immer das Firnament, als suchen sie nach etwas. Lilly wusste von einer Legende - vielmehr Seemannsgarn: Es handle sich um verlorene Seelen. Und Schiffe seien ihr Ziel. Lilly glaubte an so etwas nicht.
Robbo stand noch klatschnass an Deck. Eine Menge Salzwasser tropfte herab. Es dauerte nicht lange bis der Steuermann aus der Kapitänskajütte kam. Kaum sah er ihn, erschrillte ein kurzer Pfiff. Und ein weiterer folgte vom Ausguckmast.
So dachte Anonymus und formulierte eifrig mit Hingabe:,,Unter den Winden, dem weißen Wal hinterher. Den Wellen voraus..., dem Eismeer entgegen."
Anonymus hielt seine Schreibfeder noch fester. Er riecht die salzige Brise. Er sieht einen weißen Wal aus dem Wasser steigen. Sofort kritzelt er es auf's Papier. Dann war es ihm so, als würde ihm jemand zuhören. Hatte der ominöse Fremde Zugang, zu seinen intimsten Gedanken, zu jeder Zeile im Absatz. Nutzte dieser vielleicht die wenigen Stunden der Ruhe aus, damit Lilly und Robbo niemals ans Ziel kämen. Wieviel Zeit hat Anonymus noch?
,,Wild. Entfesselt. Mit lauten Silben, leisen Worten - aus durstigen Kehlen zu Bächen rinnt. So fließt es dahin. Und die Uhr am Horizont: Sie tickt, tickt, tickt in Richtung weißer Wale, die tosend aus den Wellen springen."
Anonymus kann es nur mit Worten, um Robbo und Lilly ans Ziel zu bringen. Vielleicht fürchtet Mister Speed die Weltenwandler, weil sie auch seine Welt umwandeln könnten. ,, Es muss doch einen Weg geben!", dachte er sich. So setzte er die Reise zum Eismeer fort. Wie ein Irrlicht durchstreift er jede Ecke seines Schiffs, um endlich erlöst zu sein wie sein Käpt'n, den er noch keinen Namen gegeben hatte.
Dieser Käpt'n erwachte mit einem Brummschädel. Er quälte sich aus seiner Koje. Wieder wurde es ein diesiger Morgen. Er vernahm keinen Ton. Das Schiff schwankte nicht. Er hörte kein Murren und Räuspern. Schließlich kommt er zu stehen. Seine Beine stehen fest. In der Kajütte steht alles an seinem Platz. Sogar der Wandspiegel hängt noch schief - mit dem Sprung quer durch's Glas. So wirkt sein Spiegelbild noch bedrohlicher. Aber etwas stimme nicht - gehöre nicht hierher. Dann kratzte ein Winseln und Kichern an sein Ohr. Dem Käpt'n,wurde es langsam zu dumm!
,,Aber guter Freund; wer wird denn gleich ungehalten. Hast du unsere Abmachung vergessen!?"
Da erschrak Anonymus und nicht der Käpt'n. Konnte das möglich sein? Da war wieder dieser diabolische Unterton - und Regie führte offensichtlich Mister Speed.
,,Ich habe dich und dein Schiff gefunden! Und du bist dir nicht mehr ganz sicher. Nicht wahr?"
Sicher war er sich in diesem Augenblick nicht. Alles geschieht innerhalb einer Zeile. So wahnsinnig schnell. Und es verändert sich gegen seinen Willen. Dem Käpt'n ist das nicht bewusst. Er weiß von den Weltenwandlern oder Assozianer nicht viel. Er weiß nur soviel, dass er dem weißen Wal folgen muss, um die Passage zum Eismeer zu finden. Es ist fast ein innerlicher Zwang, dem er sich seit Wochen ausgesetzt fühlt.Allmählich wird ihm klar, warum sein Schädel so pocht.
Er hat den letzten Rest vom Rum noch auf der Zunge - schmeckt aber abgestanden oder nach Erbrochenem. Die meisten Fässer sind schon leer oder auf der Insel geblieben.
Beim ersten Stundenglas bemerkt er aber etwas anderes: Die Fluke eines Wals ragt empor. Es ist ein weißer Wal! Plötzlich will es wieder abtauchen. ,, Folgt ihm!", schreit er sofort los, als könnten sie es mit einem Wal aufnehmen.
,, Wir werden ihn verlieren!" ruft es aus dem Ausguck. ,, Bleibt auf Kurs!" , bellt der Käpt'n auf seinen Steuermann ein. Und Anonymus treibt ihn mit weiteren Sätzen an:,,Gleich wird der Wal wieder auftauchen und dich von Angesicht zu Angesicht stellen. Er wird von deiner Flanke nicht weichen."
Ein anderer Gedanke bohrte sich in seinen Wortfluss:,,Er wird wieder auftauchen und dich und dein Schiff in die Tiefe zwingen." Dann wurde es tiefschwarz um ihn herum.
Anonymus schwankte mit seinem Schiff. Tagelang folgten sie dem weißen Wal. Er verschwand nie lange in der blauen Tiefe. Der weiße, etwas zernarbte Rücken und seine breite Fluke zeigten sich stets ohne lang abzutauchen. Bis zum Eismeer sollte es nicht mehr lange dauern. Die Tage würden länger werden und Nächte kürzer.
Fabrikokuluss - Teil 5
![Bild für die Seite von Frank Tegenthoff](https://www.literatpro.de/sites/default/files/styles/nutzer-profilbild__140x160_/public/sites/default/files/avatar/frank_tegenthoff.jpg?itok=k7_a8jYu)
von Frank Tegenthoff
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