Die Kunst zu konjugieren

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Wenn Pater Zoschke herein kam, dann war er da. Selbst die Schüler, die mit dem Rücken zur Tür saßen, spürten es instinktiv. Sie nahmen unbewusst eine Veränderung an den Schülern wahr, die ihn sahen. Eine minimale Versteifung eines eben noch entspannten Körpers. Ein Flickern von Angst in den eben noch ruhigen Augen. Ein kalter Hauch, der einem die Nackenhaare aufstellte. Er war da. Bevor er sein Pult erreichte, warf Pater Zoschke jedes Mal seinen großen Schlüsselbund darauf. Die eisernen Schlüssel, die aussahen, als öffneten sie das Gitter zu einem Verlies, aber nicht die Tür zum Lehrerzimmer, klimperten und klackerten auf dem massiven Holz und forderten uns zum Schweigen auf. Spätestens mit dem Geräusch der Schlüssel erstarben unsere lebendigen Gespräche und wir stellten uns vor unsere Tische. Wenn Pater Zoschke sich dann mit seinem massiven Körper mittig in den vorderen Raum stellte und dort verharrte, dann war er der General und wir seine Soldaten. Stramm standen wir in Reih und Glied, die Augen geradeaus, der Mund verschlossen. Pater Zoschke genoss diese Situation sichtlich. Er liebte die Ruhe im Raum und die Furcht in unseren Augen. Nicht selten reizte er diesen Moment aus, ließ die Stille im Klassenzimmer die Geräusche von draußen übertönen, und lächelte maliziös. Seine Macht über uns, das war sein Lebenselixier.

„Bonjour, la classe!“, rief er laut in den Raum hinein.
„Bonjour, Pater Zoschke!“, erwiderten wir wie ein Mann. Ein Monsieur wollte er nicht hören. Pater Zoschke war eigentlich Germanist. Es hieß, er habe in seiner Schulzeit Altgriechisch belegt, später Deutsch und Latein studiert, aber dann, der Berufsaussichten wegen, von Latein auf Romanistik umgeschwenkt. Galloromanistik, um genau zu sein. Wir, die Pennäler des bischöflichen St. Josef Gymnasiums, fanden das nachvollziehbar. Ein so massiger, einfacher Mann, mit seinem grauschwarzen Schnurrbart und dem kahlen, runden Schädel, konnte Französisch nicht aus purer Liebe zur Grande Nation studiert haben. Nein, wenn überhaupt, dann hatte er Französisch studiert, um ‚den Feind’ zu studieren. Um ihn dann, in Kenntnis seiner Perfidie, besiegen zu können. So erklärten wir uns die Berufswahl unseres Französischlehrers.

Zu Beginn einer jeden Stunde ging Pater Zoschke stets mit einem kleinen Notizbuch durch die Reihen und kontrollierte unsere Hausaufgaben. Wer seine Bücher noch nicht rausgeholt, sein Heft mit den ordentlich angefertigten Hausaufgaben noch nicht aufgeschlagen hatte, der bekam ein Ohr langgezogen. Wer während des Unterrichts tuschelte oder auf andere Weise unachtsam war, musste der Flugkurve seines Schlüsselbunds ausweichen. Gelang das nicht, war eine Beule sicher, ein Bluterguss wahrscheinlich und eine Platzwunde möglich.
Ein weiteres Ritual seiner Machtdemonstration war das ‚Konjugationsspiel’. Er teilte die Klasse in zwei Hälften auf, die Schüler zur Fensterseite gegen die Schüler zur Türseite. Mannschaft Fenêtre gegen Mannschaft Porte. Von jeder Mannschaft musste pro Runde jeweils ein Schüler nach vorne kommen, ein Stück Kreide ergreifen und eine der beiden Außentafeln so aufklappen, dass er sich dahinter verstecken konnte. Weder wir, die Schüler, noch Pater Zoschke konnten sehen, was die beiden Kontrahenten an die Tafel schrieben. Dann ging es los.
„Grammatische Person: 1. Singular. Verb: aller. Tempus: présent!“, befahl Pater Zoschke. Die Schüler schrieben.
Sobald ein Schüler meinte, die richtige Konjugation an die Tafel geschrieben zu haben, klappte er diese um und machte das Geschriebene für uns alle sichtbar: Je vais.
Hatte der Schüler die Konjugation schnell und richtig hin geschrieben, gab es zwar kein Lob von Pater Zoschke, aber einen Punkt für die Mannschaft. Jene Mannschaft, die nach zehn Minuten die meisten Punkte hatte, gewann. Die Belohnung für den Sieg war immateriell. Bestenfalls gab es für Wilhelm, unseren liebedienerischen Klassenprimus, ein anerkennendes Nicken von Pater Zoschke.

An dem Tag, als Dominik zu uns in die Klasse kam, spielten wir gerade dieses Konjugationsspiel. Die Tür ging auf, und unser Schulleiter, Pater Fredegand, stand, mit Dominik dahinter, im Türrahmen.
„Pater Fredegand“, rief Pater Zoschke sogleich. „Wie schön, dass Sie uns besuchen kommen.“ Er setzte sein schönstes schiefes Lächeln auf und ging in leicht gebückter Haltung auf Pater Fredegand zu, die rechte Hand weit von sich gestreckt. Pater Fredegand ergriff die ausgestreckte Hand nachlässig und wandte sich dann uns zu.
„Liebe Schüler, ich stelle euch Dominic vor. Er geht von heute an in eure Klasse. Ich verlasse mich darauf, dass ihr ihn in euren Reihen herzlich willkommen heißt und ihm den Einstieg so angenehm als möglich macht.“
Wir nickten pflichtbewusst.
„Dominic“, fuhr Pater Fredegand fort und schaute suchend in unsere Richtung, „du setzt dich neben Albert.“
Ich war überrascht, dass Pater Fredegand meinen Namen wusste. Ich hatte noch nie bei ihm Unterricht gehabt und es gingen mehr als vierhundert Jungen auf unser Gymnasium. Da der Platz neben mir der einzige freie Platz war, kam Dominic zielstrebig auf mich zu. An meinem Tisch angelangt, lächelten wir uns kurz an, dann nahm er Platz. Pater Fredegand warf Pater Zoschke noch einen letzten, aufmunternden Blick zu, dann war er weg. Die verkrampften Mundwinkel des Pater Zoschke entspannten sich, als die Tür wieder ins Schloss fiel.
„Nun“, fuhr Pater Zoschke fort, „wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, unser Spiel“.
Die Schüler wandten ihren Blick von Dominic ab und richteten ihn wieder nach vorne. Die nächsten zwei Jungs kamen nach vorne.
„Grammatische Person: 2. Plural. Verb: conclure. Tempus: Imparfait!“, befahl Pater Zoschke. Die beiden Schüler verharrten hinter der Tafel. Sie blieben regungslos. Man hörte keine Kreide auf eine Tafel treffen.
„Dix ... neuf ... huit ...“, begann Pater Zoschke herunterzuzählen. Als er bei Zéro angelangt war, klappten die Schüler die Außentafeln wieder um und ihre belämmerten Gesichter kamen zum Vorschein. Die Jungen hatten nichts aufgeschrieben. Nicht einmal das Personalpronomen.
„Aha!“, rief Pater Zoschke. „Aha! Ihr Elenden.“
Ich schaute verstohlen zu Dominic. Ich wollte seine Reaktion auf Pater Zoschke sehen. Ich wollte sehen, was dieser bärbeißige alte Hund bei ihm auslöste. Doch in Dominics Gesicht war fast nichts. Keine Angst, kein spöttischer Blick, bestenfalls eine unterschwellige Neugier. Sein Blick war vergleichbar mit dem eines Jungen im Zoo, der zum ersten Mal ein ihm unbekanntes Tier entdeckte. Vorsicht gepaart mit Interesse.
„Seit einem Jahr nun habt ihr alle dieses Buch zu eurer Verfügung“, rief Pater Zoschke in gespielter Entrüstung und hielt ein

Hommage an Stefan Zweig

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