Die Kunst zu konjugieren - Page 3

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Moment lang stand Pater Zoschke verloren im Raum. Seine Körperspannung war wie weggeblasen. Seine Schultern hingen herab. Dann aber gab er sich einen Ruck. Sein Blick ging zu Dominic. Und verharrte dort.
„Dominic“, sagte er schließlich. „Komm nach vorne!“.
Dominic schaute ihn ruhig an. Ich machte mich auf alles gefasst, auch auf Körperlichkeiten. Aber Dominic stand ganz gemächlich auf, ging gelangweilt nach vorne und hielt dabei dem Blick seines Französischlehrers stand.
„Wilhelm“, rief Pater Zoschke dann. „Komm du auch nach vorne. Du trittst gegen Dominic an.“
Wilhelm stand sofort auf und stellte sich flugs hinter die Außentafel. Er war der unangefochtene Konjugationchampion, niemand konnte ihm das Wasser reichen. Jedem von uns war klar, was Pater Zoschke mit diesem ungleichen Duell bezweckte.
„Nehmt die Kreide auf“, befahl Pater Zoschke.
Er schaute uns provozierend an. Ihr werdet schon sehen, deutete ich seinen Blick.
„Grammatische Person: 2. Plural. Verb: placer. Tempus: passé simple!

Bevor ich in Gedanken die Endungen des passé simple durchgehen konnte, wurde ich durch einen Knall aufgeschreckt. Dominic hatte mit voller Wucht die Außentafel umgeschlagen. In weißer Kreide auf grünem Grund stand dort: vous plaçâtes. Ich hatte keine Ahnung, ob die Konjugation richtig war, aber an Patern Zoschkes völlig verdattert dreinschauender Visage war klar: die Konjugation war korrekt. Auch Wilhelm, der hinter seiner Außentafel hervorgekommen war, wurde bleich.
Dominic stand da, und wir sahen ihn an wie einen Anführer. Es fehlte nicht viel, und wir wären alle jubelnd hochgeschossen und hätten ‚Zu den Waffen’ gerufen. Man spürte die unterdrückten Gefühlsexplosionen in unseren Körpern. Eine Energie strömte durch den Raum, ein Triumphgefühl, dem Pater Zoschke, unser Sonnenkönig, nichts entgegen zu stellen vermochte.
„Ruhe“, schrie er mit hassverzerrtem Gesicht.
Dabei hatte keiner von uns einen Ton gesagt.

Stille.
„Nous faisons un dictée!“, sagte Pater Zoschke schließlich. Seine Hand zitterte.

Als es zur Pause geschellt und Pater Zoschke grußlos den Raum verlassen hatte, stupste ich Dominic an.
„Na, wenn du dir da mal keinen Feind gemacht hast“, meinte ich.
Dominic schaute mich an.
„Wen denn?“
„Na, Pater Zoschke. Wen sonst?“
„Zoschke?“, meinte Dominic gelassen. „Der ist doch harmlos.“
„Harmlos!?“, fragte ich entgeistert zurück. Mir waren schon viele Adjektive zu Pater Zoschke eingefallen, aber das von Dominic befand sich nicht darunter.
„Harmlos?! Dieser böse Hund? Wie er schreit und schimpft, wie er uns drangsaliert und misshandelt? Das findest du harmlos?“
Dominic nickte.
„Ja. Zoschke ist authentisch. Er bellt vielleicht, aber er beißt nicht. Die netten, die lieben Lehrer, die angeblichen Kümmerer, die sind gefährlich. Vor denen musst du dich in Acht nehmen. Aber Zoschke...“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
Wir standen auf und verließen gemeinsam den Klassenraum. Auf dem Pausenhof, wo ich für gewöhnlich mit den anderen Jungen an einem festen Platz stand, entschied ich, mit Dominic zu gehen.
„Woher wusstest du die korrekte Konjugation? Du sagst doch kein Wort im Unterricht.“
Dominic lächelte mich geheimnisvoll an. Wir schlenderten an den Pinien vorbei und lehnten uns an die Brüstung vor der Treppe, die runter zur Toilette führte. Als Dominic die Hände in die Hosentasche steckte und ein Knie anwinkelte, tat ich es ihm unwillkürlich nach.
„Kennst du Schloss Benedictum?“
„Die Klosterschule in Eschenlohe?“
„Genau die.“
„Ja, kenne ich. Wieso?“
„Auf dem Internat dort, da war ich, bevor ich hierher gekommen bin.“
„Aha“, erwiderte ich, erfolglos in dem Versuch, mich unbeeindruckt zu zeigen.
„Aber sie haben mich rausgeschmissen.“
Ich schwieg, weil mir nichts dazu einfiel. Ich ließ den Blick über den Pausenhof schweifen und schaute auf die tobenden, die in sich gekehrten, die gelangweilten, die euphorischen, die mutigen und die ängstlichen Jungen, die den Asphalt bevölkerten. Ich spürte, dass Dominic mir etwas erzählen wollte, und dass es dazu keiner expliziten Aufforderung bedurfte.
„Das Benedictum“, fuhr Dominic fort, „das Benedictum war die Hölle. Gottes Kaderschmiede, so haben sie es in Eschenlohe genannt, aber wirklich, es war die Hölle. Es gab nur eine Regel: absoluter Gehorsam. Jeden Tag wurden wir von den Patres gezüchtigt, von morgens fünf bis abends um sieben. Und jeder Pater versuchte, der Härteste zu sein. Untereinander überboten sie sich gegenseitig in immer drakonischeren Maßnahmen. Wenn wir nicht taten, was sie wollten, wurden wir auf den Hof gestellt, ausgezogen und mit einem Haselnussstock verdroschen. Ein Pater schlug mir einmal mit der flachen Hand so lange ins Gesicht, bis mir das Blut aus der Nase schoss. Das Schlimmste aber, das Schlimmste war die Hackordnung unter den Schülern. Die älteren Schüler waren nämlich die willigen Helfer der Pater. Manchmal wurden sie dazu abgerichtet, uns Jüngeren den Arm zu verdrehen und den Oberarm so lange zu traktieren, bis er blau anlief. Die anderen Oberstufenschüler standen dann im Kreis und johlten und grölten und lachten ...“
Dominic hielt inne. Er hob einen Kiesel vom Boden auf und kickte ihn mit dem Fuß weg.
„So war das am Benedictum. Deswegen macht mir der Zoschke keine Angst, du verstehst?“
Ich schluckte. Ich hatte Geschichten wie diese zwar schon gehört, aber immer für Gerüchte gehalten.
„Jedenfalls“, erzählte Dominic weiter, „jedenfalls gab es da diesen Jungen. Felix. Ein netter, aber zarter Junge. Zierlich, blondgelockt, ein Engelsgesicht. Er kam vorletzten September zu uns ans Benedictum. Während die meisten Patres ihn zunächst ohne Unterschied zu uns behandelten, hielt ein Pater, Pater Lürken, bald seine Hand schützend über ihn. Er sorgte dafür, dass die anderen Pater ihn in Ruhe ließen und selbst die älteren Schüler trauten sich bald nicht mehr, Felix zu drangsalieren. Am Anfang hatte ich den Eindruck, dass Felix sich über diesen besonderen Schutz freute. Mehr noch, er wurde uns gegenüber fast ein wenig herablassend und verspielte sich damit die Sympathien bei uns. Irgendwann sprach keiner mehr mit ihm und in den Pausen stand er alleine da. Dann, drei, vier Monate nach seiner Ankunft, holte Pater Lürken ihn manchmal aus dem Unterricht. Felix benötige besondere Unterstützung, hieß es. Aber als ich sah, wie verstört Felix nach diesen ‚Privatstunden’ zurück in die Klasse kam, wussten wir alle, was mit ihm passiert war.“
„Was meinst du?“, unterbrach ich ihn hastig. Eine Frage, die gleichzeitig versuchte, aufzufordern und Einhalt zu gebieten. Dominic warf mir einen vielsagenden Blick zu.
„Pastor Lürken hatte einen ‚Ruf’ “, erwiderte er. „Wenn du verstehst, was ich meine?“
Ich hatte einen Kloß im Hals. Unfähig zu sprechen, nickte ich nur.
„Die meisten von uns waren ohne Mitleid für Felix. Geschieht ihm recht, meinten sie. Und ich dachte ähnlich. Aber irgendwann merkte ich, dass sich nichts ändert, wenn wir alle nur auf uns selbst achten. Ich merkte, dass Leute wie Pater Lürken genau das vermeiden wollten: Solidarität unter den Opfern. Denn wenn Opfer sich solidarisieren, dann entwickeln sie eine Kraft, die schwer kontrollierbar ist. Gut, jedenfalls nahm ich mir vor, etwas zu tun. Etwas für Felix zu tun. Als also Pastor Lürken wieder einmal zu uns in die Klasse kam, wir hatten gerade Französischunterricht, und Felix für eine ‚Privatstunde’ mitnehmen wollte, bin ich aufgestanden und habe gesagt, dass Felix keinen ‚Privatunterricht’ mehr möchte und dass wir Jungen dieses System der ‚Privatstunden’ ablehnen. Ich bin sogar aufgestanden, um das zu sagen. Ich hatte wohl gehofft, dass die anderen Jungen mir folgen würden, als sei ich Spartakus. Stattdessen war es einen Moment lang sehr still. Keiner sagte etwas, alle guckten auf Pater Lürken. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie die Wut in ihm hochstieg. Dann nahm er ein Buch vom Pult, kam auf mich zu und schlug es mir mit beiden Händen und mit voller Wucht ins Gesicht. Ich taumelte erst und fiel dann hintenüber. Dann zog er mich mit einer Hand am Ohr hoch und zerrte mich vor den Augen aller aus dem Klassenraum. Ich sehe jetzt noch die offenen Münder der Schüler vor mir. Auf dem Gang trat Pater Lürken mich und schleppte mich bis zum Karzer. Er schloss die Zelle auf, stieß mich hinein und schmiss das Buch hinterher.“
Dominic machte eine Pause. An seinem Gesicht erkannte ich, dass seine eigene Erzählung ihn betroffen machte. Dass er es im Geiste nochmal durchlebte. Die Ruhe, die Gelassenheit, die vermeintliche Willenskraft, die wir so an ihm bewunderten, war wie weggeblasen.
„Ich blieb für zehn Tage im Karzer. Zehn Tage bei Wasser und Brot. Zehn Tage in einem kleinen Raum aus Stein, mit einem kleinen Guckfenster. Zehn lange Tage. Ich sag dir, zehn Tage klingt nicht viel, aber bleib mal einen Tag lang in einem Zimmer, dann kriegst du eine Ahnung davon, was ich meine. Jede Sekunde ist ein Tag, jede Minute eine Woche und jede Stunde ein Jahr. Man wird verrückt. Man verwildert geistig. Keine Struktur, keine Ordnung, nur du und deine Gedanken. Und um nicht völlig verrückt zu werden, versuchte ich, mich geistig abzulenken. Ich sagte wieder und wieder alle Gedichte auf, die ich auswendig kannte. Ich dachte mir Streitgespräche zwischen historischen Persönlichkeiten aus, ich maß den Raum aus, ich zählte die Steinchen am Boden. Und irgendwann fiel es mir ein: das Buch. Pater Lürken hatte mir ein Buch ‚geschenkt’. Ein ganzes Buch. Wörter, Sätze, Texte, Geschichten, Unterhaltung. Ich hob das Buch auf. Und was war es für ein Buch?“
„Der Becherelle!“, sagte ich.
„Genau. Der verdammte Becherelle. Keine Texte, keine Geschichten, nein, nur Konjugationen. Konjugationen! Aber mein Geist verlangte nach Beschäftigung, egal welcher Art. Und so beschäftigte ich mich eben damit. Mit Konjugationen.“
Ich unterdrückte ein Lachen. Es erschien mir unpassend. Ich hatte viele Gedanken, die mir durch den Kopf gingen. Ich wollte so vieles sagen, aber ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte, vielleicht gab es aber auch einfach keine Worte für das, was ich fühlte. Und in dem Moment, wo ich tatsächlich etwas von mir geben wollte, klingelte es.
„Komm“, sagte Dominic. „Gehen wir wieder rein.“

Wir gingen wieder rein. Wir setzten uns hin. Der Unterricht ging weiter.

Und das war es. Wir sprachen nicht mehr darüber. Wir sprachen überhaupt nicht mehr miteinander. Wir wurden keine Freunde. Einen Monat später wurden wir als Klasse in einen anderen Raum verlegt und ich saß von da an neben Ansgar. Herr Zoschke wurde umgänglicher im Ton, aber dem Vernehmen nach nur in unserer Klasse. Zwei Jahre später verließen wir das Internat. Ich habe nie wieder etwas von Dominic gehört. Die anderen meinten, er sei bestimmt im Ausland und dort erfolgreich in der Führung eines Unternehmens tätig. Sonderbarerweise stellte ich ihn mir anders vor, nämlich arm, mittellos und verzweifelt in einer deutschen Kleinstadt. Denn als die Wahrheit nach und nach, fast vierzig Jahre später ans Licht kam, da berichteten die meisten Opfer von einem eher trostlosen Leben. Noch heute suche ich in allen öffentlichen Berichten, die ich zu diesem Thema lese, unwillkürlich nach diesen zwei Namen: Felix und Dominic.

Felix und Dominic. Dominic und Felix.

Felix. Dominic.

Aber gefunden habe ich sie bis jetzt nicht.

Hommage an Stefan Zweig

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