Gefährlicher Sommer (1.Teil)

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von Annelie Kelch

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… wie weit willst du noch gehn?
Verwehre doch neuen Eindrücken den
drängenden Charakter – stumm liegen,
die eigenen Felder sehn, das ganze Rittergut,
besonders lange auf Mohn verweilen,
den unvergesslichen, weil er den
Sommer trug – wo ist er hin?
Gottfried Benn (Ein Schatten an der Mauer )

Prolog

Hamburg, Januar 2008

Letzten Sommer besuchte mich Sina, wie jedes Jahr im August. Es war ein sonniger Montagmorgen – in Anbetracht der frühen Stunde vielleicht einen Tick zu schwül, aber der wolkenlose Himmel hing azurblau über der Stadt, als der Intercity, darin sie ihre Reise ab Hannover fortgesetzt hatte, endlich im Hauptbahnhof einlief.
Ich freute mich seit Wochen: auf meine Tochter, auf eine unbeschwerte Zeit in kurzweiliger, fröhlicher Gesellschaft und auf die Sonnenblumen, die sie aus ihrem Garten mitbringen wollte.
Am Abend vor ihrer Ankunft holte ich die große Bodenvase aus dem Keller und stellte sie ins Wohnzimmer. Ich ahnte ja nicht, dass sie diesmal leer bleiben sollte; Sina stieg aus der Bahn und hielt nichts weiter als ihre Reisetasche in der Hand. Nachdem wir uns begrüßt hatten, überreichte sie mir zu meinem Erstaunen ein kleines Päckchen. Sein Inhalt war in lindgrünes Seidenpapier gewickelt, das von einer dunkelroten Kordel zusammengehalten wurde.
„Statt Blumen“, sagte sie und lächelte geheimnisvoll. – „Du darfst es erst nach dem Mittagessen öffnen.“ –

Nachdem wir Reissalat mit knusprigen Hähnchenkeulen, Sinas Leibgericht, verspeist und uns die wichtigsten Dinge von der Seele geredet hatten, nahm ich das rätselhafte Bündel in die Hand, löste die Kordel und schlug das Papier auseinander. Dabei fielen die Briefe heraus, Katjas Briefe. Ihre Handschrift war mir vom ersten Blick an vertraut. Sämtliche Poststempel, so stellte ich aufgeregt fest, trugen Daten der Ferientage aus dem Sommer 1963, jenem Sommer, der wie geschaffen zum Verrücktwerden war – nicht nur vor glühender Hitze.
Jeder Brief war an mich adressiert, genauer gesagt, an das Mädchen, das ich damals war: Christine Lakoda aus Bremen, gerade fünfzehn geworden. Drei Tage vor den großen Ferien musste ich ins Krankenhaus. Ich war auf dem frisch gebohnerten Korridor meiner Schule ausgerutscht und hatte mir das Sprunggelenk gebrochen.

Katjas Briefe, an deren spektakuläre Inhalte ich mich heute wieder, Jahrzehnte später, erinnere, als hätte ich sie gestern erst erhalten, wurden im Postamt eines kleinen Dorfes südlich von Lübeck aufgegeben, in Lachau – vermutlich von ein und demselben Boten, der gegen Mittag die Tagespost für unser gemeinsames Ferienziel, einem prächtigen Landgut, auf dem runden Eichentisch in der verglasten Veranda des Herrenhauses deponierte und die zum Versand bestimmte Korrespondenz, die die Absender dort bereitgelegt hatten, praktischerweise gleich mitnahm.

Anfangs freute ich mich riesig auf Katjas Briefe und vergaß für Stunden den grässlichen Gipsverband. Später hatte ich nur noch schreckliche Angst – um Kora, Konny und Hannes, obgleich ich keinen von den dreien persönlich kannte; aber am meisten bangte ich um Katjas Leben. Wären damals ihre von Mal zu Mal dramatischer klingenden „Lageberichte" vom Gut nicht mehr eingetroffen, hätte ich annehmen müssen, dass ihr etwas zugestoßen war; denn sie hatte mir hoch und heilig versprochen, jeden Tag zu schreiben und hielt in der Regel ihre Versprechen.

Wir lernten uns auf Hof Lachau kennen, einem für damalige Verhältnisse riesigen Anwesen – mit Forstgebieten, die sich bis nach Ratzeburg erstreckten. Katjas Großeltern bewohnten seit Kriegsende die Räumlichkeiten neben dem ehemaligen Festsaal des im Barockstil errichteten, jahrhundertealten Herrenhauses, während meine Tante, soweit ich zurückdenken konnte, in ihrer gemütlichen, von ungezähmten Weinranken belaubten Strohdach-Kate gegenüber dem Gutspark lebte. Durch die in Blei gefassten Butzenscheiben der rückseitigen Fenster des kleinen Backsteingebäudes, erspähte man unter einem blassblauen Himmel ein leuchtendes Meer aus summenden Weizengräsern, Ackerwildkräutern und feuerrotem Mohn – bis hin zu den verschwommenen Konturen des Lachauer Forstes, dem waldstillen, fernen Horizont: eine Landschaft, die sich tief in mein Gedächnis eingebrannt hat.

Katja lief mir eines schönen Tages im Kirschgarten über den Weg. Wir hatten beide im Juni unseren zehnten Geburtstag gefeiert; aber das war gewiss nicht der einzige Grund, weshalb wir schon wenige Stunden nach unserer ersten Begegnung Freundschaft schlossen.

Seither verbrachten wir die großen Ferien ausnahmslos auf Hof Lachau, benahmen uns wie zwei unzertrennliche Kletten und kicherten über ein und dieselben Dinge. Während der übrigen Zeit standen wir im regen Briefkontakt und fieberten den gemeinsamen Wochen auf dem Gut entgegen, als ginge es geradewegs ins Paradies.
In jenem Sommer kam jedoch alles anders, als wir uns erträumt hatten: Ich lag in Schwachhausen im Krankenhaus, während Katja auf dem Weg nach Lübeck war und sich auf die Ferien freute – auf die Ferien mit mir –, die unvergleichliche Wochen versprachen. Wenige Tage nach ihrer Ankunft auf dem Gut erreichte mich ihr erster Brief. Sie schrieb von da an jeden Abend, und ich erhielt laufend Post. Die Mädchen, mit denen ich das Krankenzimmer teilte, beneideten mich darum. – Doch schon bald spürte ich die Gefahr, in der Katja schwebte. Sie kroch aus den Zeilen hoch, langsam und zäh, aber unbeirrbar – geradewegs in mein Herz hinein, schnürte mir die Kehle zu und erfüllte mich mit entsetzlicher Angst. Ich glaube nicht, dass Katja sich dieser Gefahr wirklich bewusst war, dass sie mehr verspürte als nur ein diffuses Gefühl der Furcht. Sie steckte voller Abenteuerlust und war auf hochdramatische Ferien aus: damit mir die Krankenhausdecke nicht auf den Kopf fiel – und wegen Hannes, um ihm den Spott heimzuzahlen. Aber vor allen Dingen hatte sie sich in den Kopf gesetzt, Knuts Mörder zu finden, obwohl die Kripo den Fall längst zu den Akten gelegt hatte.

„Ich habe sie auf dem Speicher gefunden“, erklärte meine Tochter fröhlich und riss mich aus meinen Erinnerungen. „Sie lagen unter den alten Dachziegeln. Es war purer Zufall, dass ich sie dort entdeckte. Hätte unser frecher Kater sich nicht auf die brüchigen Dinger gesetzt, während ich dort oben Ordnung schaffte, wären sie womöglich nie mehr ans Tageslicht gelangt. Naseweis wollte nämlich partout nicht mehr nach unten. Ihm gefiel es auf den warmen Backsteinen. Er fauchte wie ein Tiger, als ich ihn auf den Arm nehmen und forttragen wollte.
Ich lief hinunter in die Küche und füllte seinen Fressnapf bis zum Rand mit exklusivem Katzenfutter, das ich für besondere Anlässe aufgespart hatte. Wenn es überhaupt etwas gab, womit

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Dies ist der Prolog zu meinem ersten Buch, damals, in Hamburg; ich glaube, ich habe es schon 2007 begonnen. Es hat ca. 400 Seiten und es fehlen nur noch zwei Kapitel. Gestern Nacht erlebte ich eine freudige Überraschung: Ich habe das Buch damals mit einem anderen Schreibprogramm begonnen: „Starwriter" (im übrigen kein schlechtes Programm) – hatte schon sehr, sehr viel geschrieben und wollte es dann ins Wordprogramm kopieren. Es ging leider nicht; es funktionierte tatsächlich nicht. Ich war sehr niedergeschlagen und hatte irgendwann begonnen, alles neu abzuschreiben – ins neue Wordprogramm. Gestern Nacht, beim erneuten Abschreiben, mein damaliger Computer war vor einem Jahr abgestürzt und sämtliche Dateien vernichtet und auch von einem Fachmann nicht wiederherstellbar, habe ich – so nebenher beim Schreiben – einfach aus einer Laune und Resignation heraus, versucht, ein Wort von der Starwriter Version, die ich nebenbei geöffnet hatte, zu kopieren und ins Wortprogramm einzufügen – es funktionierte. Heureka! – Mann, war ich happy – und habe natürlich gleich den ganzen Text ins Wordprogramm kopiert. Viel einfacher für mich nun! Sogar die verdeckten Zeichen der Trennungsstriche habe ich, technisch wenig versiert, ausschalten können. Lacht bitte nicht, ja! – Ich weiß, das bedeutet lediglich die Fortnahme eines Häkchens (sofern man herausfindet, wo es sich befindet), trotzdem habe ich mir ganz sanft auf die Schulter geklopft; es war immerhin gegen drei Uhr nachts und ich längst nicht mehr taufrisch im Kopf. – Ihr bekommt mein Buch zuerst zu lesen; dabei kann ich es gleich korrigieren. – Ach ja: für Axel: Den Namen Axel (Kröger) habe ich bereits 2007 „erfunden". Er hat nichts mit dir zu tun und du darfst dich nicht daran stören. Außerdem ist Herr Kröger ein ganz lieber Mensch. Hoffentlich gefällt euch mein Jugendkrimi, der ebenso gut von Erwachsenen gelesen werden kann. Es wird noch sehr spannend. Liebe und gleichermaßen gefährliche Sommergrüße von Anne-Li.

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