Der freie Wille - Page 6

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von Lara Preis

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und versorgten sich somit gegenseitig mit allem Nötigen. Von den wild wachsenden Obstbäumen war nichts mehr übrig, stattdessen hatte man Monokulturen geschaffen.
Minea und Seyma bekamen diesen Überblick dank einer Art Video, das unangekündigt vor ihnen auf dem Boden projiziert wurde.
„Es hört sich jetzt zwar irgendwie komisch an, aber vielleicht sind wir ja in ein Computerspiel hineingeraten.“
Weiter ging der digitale Unterricht und man berichtete ihnen, dass die Anzahl der Länder aufgrund von Kriegen und entsprechenden Eroberungsfeldzügen von ursprünglich dreiunddreißig auf zwölf geschrumpft sei. Die jeweils unterlegenen Völker mussten daher jetzt nicht nur für ihre neuen Herrscher den ursprünglichen Arbeiten nachgehen, sondern ebenfalls deren Tätigkeiten unterstützen bzw. übernehmen.
„Das nenne ich ja mal eine spannende Geschichtsstunde.“
Minea hätte gerne noch mehr erfahren.

Sichtlich gezeichnet war der alte Mann, die Kleidung zerrissen, wuchernder Bart- und Haarwuchs, barfuß, Beine und Arme mit unterschiedlich großen Schürfwunden übersät. Nicht minder interessant sollte es aber für die beiden Jugendlichen sein, dass er sie wahrnehmen konnte.
„Ihr müsst mir helfen!“
Während Minea noch staunend vor der Kreatur verharrte, suchte Seyma nach einer schnellen Lösung des Problems.
Eine mit Waffen aus Metall ausgestattete Frau trat zuerst in Erscheinung. Da die beiden Jugendlichen von ihr mit den Sinnen nicht erfasst werden konnten, blickte sie mit Genugtuung auf den scheinbar einsamen Verfolgten und zog eine Art Schwert aus der entsprechenden Halterung. Sie trug mutmaßlich sehr lange strohblonde Haare, die man geflochten und in Gestalt eines Zuckerhutes auf ihrem Kopf fixiert hatte. Der Körper in eine rotfarbene Tunika gekleidet, darüber eine Art Rüstung aus kupfernen Platten. Tierlederschuhe bedeckten die Füße.
„Wozu weibliche Eitelkeit doch manchmal gut ist ...“
Der Versuch war es wert gewesen, denn die Soldatin brauchte einige Zeit bis ihre Augen wieder einigermaßen funktionierten. Verwundert musste sie feststellen, dass der alte Mann zwischenzeitlich scheinbar vom Erdboden verschwunden war.
„Ich bin halt eine Frau und steh auch dazu ...“
Seyma hatte zuvor einen kreditkartengroßen Spiegel in ihrer Hosentasche entdeckt und das Abbild der Sonne direkt in die Augen der fremden Frau reflektiert. Im Anschluss versteckte sie den Mann unbemerkt in einem angrenzenden Maisfeld.
Nach und nach kamen die übrigen Verfolger hinzu, alle ausnahmslos Frauen.
„Soll er doch verschwinden. Hauptsache, er geht unserer Königin nicht mehr auf die Nerven.“
Sie stellten die Suche ein und verließen den Ort.

Es war Abend geworden und Minea hatte dank vorhandenem Wissensschatz mit den verfügbaren Materialien ein kleines Lagerfeuer hergerichtet. Auf Ästen waren gebratene Maiskolben gespießt, eine improvisierte Mahlzeit.
„Danke noch einmal, dass ihr mir geholfen habt!“
Seyma schenkte dem Alten ein warmes Lächeln.
„Was wollten diese gut bewaffneten Hühner eigentlich von dir?“
Typisch für Minea, mussten jetzt schnell analysierbare Informationen her.
„Ihr dürft mich übrigens Nunzio nennen … Mein Schöpfer hat mich in diese Welt gesandt, weil er sich mit den Menschen wieder versöhnen möchte. Es muss hart für ihn gewesen sein, als sie damals ihre eigenen Wege gegangen sind …“
Sichtlich gerührt, wischte sich Seyma ein paar Tränen aus dem Gesicht. Ihre Schicksalsgefährtin wirkte dagegen eher unbeeindruckt.
„Dann muss sich dieser Schöpfer halt früher überlegen, wie das Produkt am Ende aussehen soll. Entweder schaffe ich etwas, das nach meiner Pfeife tanzt oder ich statte es mit einem freien Willen aus, der dann aber nicht immer Entscheidungen nach meinem Geschmack trifft.“
„Es geht doch nicht immer nur ums Rationale, sonst können wir uns ja gleich von Roboter ersetzen lassen“.
Minea hatte mit Seymas emotionalen Einwand nicht gerechnet.
„Schau Minea, Freundschaften oder Beziehungen kann man sicherlich aus rein pragmatischen Gründen eingehen, doch wenn keine gegenseitige spürbare Verbundenheit vorhanden ist, dann verkümmern diese und die handelnden Akteure machen sich selbst beliebig austauschbar. Mein Schöpfer hingegen wollte keine Marionetten in die Welt setzen, sondern, dass sich diese Menschen hier freiwillig für ihn entscheiden, weil er nur ihr Bestes im Sinn hat, sie mehr liebt als alles andere und von ihnen natürlich ebenfalls geliebt werden möchte …“
Abrupt wurde Nunzio unterbrochen.
„Klar, deshalb zeigte er sich auch lediglich als Projektion auf einer Bergwand und alle mussten strammstehen. Nur totalitäre Regime gehen so mit ihren Untertanen um …“
„Aber gerade während dieser Projektion sind doch alle untereinander und vor allem mit ihm verbunden gewesen …“
Die Unterhaltung zwischen Minea und Nunzio hatte sich mittlerweile zum Streitgespräch entwickelt.
„Ja, so gut, dass sie anfällig für alternative Angebote gewesen sind …“
„Sie haben halt einen freien Willen und der kann zugleich Ursache und Lösung eines Problems sein …“
Seyma hielt sich die Ohren zu und bat die beiden Konfliktparteien, ihre Diskussion zu beenden.
„Dein Schöpfer, für uns übrigens Ludo … Warum kann er nicht einfach wieder erscheinen und die Sache hier entsprechend korrigieren?“
„Schön Seyma, dass du mit einem weiteren Beitrag zum Gelingen dieser Unterhaltung beitragen möchtest.“
Sie hätte in diesem Moment Minea am liebsten die Augen ausgekratzt.
„Die Projektion ist ein Zusammenspiel zwischen Schöpfer und Menschen. Da sich das Volk aber mittlerweile nicht einmal untereinander auf Augenhöhe begegnet, funktioniert dies zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht …“
Dieser Nunzio musste wohl immer das letzte Wort haben.
„Bla, bla, bla. So, jetzt hör mir mal zu, alter Mann. Dein Schöpfer, unser Ludo oder wer auch immer für diese Scheiße verantwortlich ist, darf hier gerne auch mal persönlich vorbeischauen und soll doch bitte damit aufhören, Leute wie dich vorzuschicken … Da er dies natürlich nicht tun wird, weil er ja schließlich nur als Projektion in Erscheinung tritt, wirst du uns morgen zu ihm führen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass er sich in Wirklichkeit irgendwo versteckt hält.“
Nunzio zitterte, denn Minea hatten ihn sichtlich verängstigt.
„Ich kann euch wirklich nur dorthin führen, wo mir mein Auftrag gegeben worden ist.“

Ein großer glühender Feuerball erhob sich aus dem Meer und beendete die milde Nacht. Da an diesem Ort scheinbar wieder die meisten Naturgesetze angewendet werden konnten, war es jetzt endlich möglich, per Sonnenverlauf die Himmelsrichtungen zu bestimmen. Es sei denn, sie befanden sich hier auf der Südhalbkugel. Auf jeden Fall lag das Gebirge schon einmal dort, von wo aus die Sonne nie schien, also mutmaßlich im Norden.
Dank des sandigen Bodens hatten sie in der vergangenen Nacht weich gelegen und entsprechend erträglich schlafen können. Trotz Kapriolen von Zeit und Raum war dies schließlich erst der zweite Tag ihrer unbeabsichtigten Reise, weshalb die Kleidung ohne Schamgefühl auch weiterhin getragen werden konnte. Andererseits gab

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