Hallo Mara,
was soll ich dir erzählen von Sardinien?
Vier Jahre habe ich dort gelebt, und mit der sanften Beharrlichkeit, die dieser Insel eigen ist, hat sie meine Persönlichkeit geformt. Zu meinem Vorteil, heißt es bei denen, die mich vorher schon kannten - und auch ich bin dieser Meinung. Aber ich bin "betriebsblind", denn ich liebe Sardinien.
Sieben Monat im Jahr hatte man das, wovon der Nordeuropäer sein Leben lang träumt: jeden Tag Sonne! Outdoorverabredungen konnte man monatelang im Voraus verlässlich treffen.
Aber wenn gegen Ende dieser sieben Monate das Wasser rationiert wurde und nur noch eine halbe Stunde pro Tag aus den Hähnen floss, weil eben jene Sonne den damals neu erbauten Staudamm Flumendosa fast leergesogen hatte, dann begannen bei 39 Grad Celsius im Schatten die ketzerischen Gedanken ihr insistentes Spiel: "Regen, wenigstens etwas, bitte schick ein kleines bisschen Regen ...".
Und wenn nach Monaten der Ventilatoren - auch nachts, weil sogar das Bettlaken, mit dem allein man sich noch zudeckte, schon zu viel wurde -, wenn er dann also kam, der Regen, und T-Shirts und Seidenblusen an die Haut klebte mit 100-Lire-Stück-großen Tropfen, dann schien das jedem wie hart verdienter Lohn. Schon einen Tag später wich die Erquickung dem Überdruss, wurde der Regenschirm lästig - und außerdem hatte es abgekühlt; man musste mehr anziehen und das war unbequem.
Noch heute sehe ich die alarmiert-neugierigen Blicke der in Pelz und anderes Wärmendes Verpackten, als sie mich exotisches Wesen kurzärmelig und strumpflos entdeckten, wie ich die Stadt, die für die nächsten Jahre meine werden sollte, in meinem ersten Oktober dort erkundete.
Schon ein Jahr später trieb ich es schlimmer als sie: Sogar in der Wohnung trennte ich mich nicht von meinem Schal und blieb wie festgetackert möglichst nah an der Heizung. Dabei sagten sie, es sei ein Winter wie jeder andere.
Die Winter auf Sardinien - keine Schneeflocke erreichte den Boden der Stadt. Spätestens 10 cm über Straßenniveau schmolzen sie in der Luft. Das Nachbarmädchen knetete ihren ersten Schneeball mit neun Jahren, als wir ihr einen Eimer voller Schnee aus den Hausbergen mitbrachten. Denn dort sah es natürlich anders aus. Auf den Bergen blieb der Schnee schon liegen und in den Dörfern kroch die Kälte in die Knochen. Kuschelig warm, wie bei uns die Häuser und Wohnungen in der Stadt, wurden die Häuser nicht, denn häufig war die einzige Wärmequelle der Kamin in der Wohnküche. Auf ihm - oder besser: in ihm - wurde auch gekocht.
Dann konnte man zwar ebenfalls noch mit mobilen Öfen heizen, in die Gasflaschen eingestellt wurden, aber die hielten die Wärme ebenso wenig wie die dicken Mauern, deren Kühle nur im Sommer angenehm war. Auch die älteren Häuser in der Stadt, die noch vor der Zeit der Zentralheizungen gebaut worden waren, beherbergten stets schniefende, in Pullover und Jacken Gehüllte mit dicken Socken und warmen Schuhen.
Auch über der Stadt lag vom Herbst bis zum Frühjahr eine Haube aus Wohlgeruch: Der Rauch des in den Kaminen verbrannten Holzes duftete würzig, aromatisch und verlockend. Gepaart mit der frühen Dunkelheit der Wintertage und der Überfülle an elektrischer Beleuchtung, zauberte das eine aufgeregte Festtagsstimmung, die unter der Haut kribbelte.
In den Dörfern war weit weniger los. Besonders in den kleinen konnte es passieren, dass man durchfuhr, ohne sie bemerkt zu haben, wenn man nicht wusste, dass sie existierten.
Aber eigentlich kann ich dir nur von der Stadt erzählen, denn dort habe ich die meiste Zeit verbracht. So sind meine Geschichten von Sardinien eher Geschichten aus der Stadt, die sich bei mir eingenistet hat, und die ich einfach nicht vergessen kann.
Es soll sich sehr viel geändert haben, zum Negativen, höre ich sagen. Dreck auf den Straßen, Fixer, leere Spritzen, Drogenkriminalität wohin man sieht, heißt es. Man könne sich nirgends mehr hintrauen, sagt man.
Aber ich kann nicht glauben, dass es wirklich so schlimm ist, wie es geschildert wird. Vielleicht ist die Stadt nicht mehr ganz so schön wie das Bild von ihr, das ich in mir habe, kann schon sein. Aber sieht man nicht nur, was man sehen will? Und nur das kann man auch erzählen. Das gilt für das bunte Bild genauso wie für das grau-schwarze.
So, meine Liebe, jetzt habe ich Lust bekommen, meine Fotos von damals anzusehen und die gedankliche Reise in meine gefühlte Heimat auszuweiten. Vielleicht fliege ich ja sogar bald mal wieder hin, um mir anzusehen, wie es wirklich aussieht.
Ich halte dich auf dem Laufenden, versprochen!
Liebe Grüße,
Stella
noé/2016