Es war einmal ein kleines, aber aufgeklärtes Mädchen. Und weil es stets ein rotes Kopftuch trug, nannte man es im ganzen Dorf nur Rotkäppchen.
Das kleine Mädchen wußte, daß es nie mit einem fremden Mann mitgehen durfte, es wußte, daß alle Erwachsenen recht haben, und natürlich wußte es auch, daß im Wald der böse Wolf ist, der alle kleinen Mädchen aufzufressen pflegt.
Nun wohnte in diesem Wald aber auch die Großmutter des kleinen Mädchens. Und eines Tages wollte Rotkäppchen der lieben Großmutter eine Freude machen und fragte die Mutter, ob es die Oma mal besuchen und ihr etwas Kuchen und Wein mitbringen dürfe.
Die Mutter erlaubte es, packte einen Korb voller schöner Sachen und sagte, daß Rotkäppchen auf den rechten Weg achten und der Großmutter einen lieben Gruß ausrichten möge. Vor allen Dingen aber sollte es vor dem bösen Wolf auf der Hut sein, da er bekanntlich alle kleinen Mädchen auffresse. Und so ging das kleine Mädchen noch schnell einmal in die Kirche und betete, daß es dem bösen Wolf nicht begegnen möge, und machte sich frohgemut auf den Weg.
Das Haus der Großmutter lag in einer Gegend, wo der Wald am dichtesten war, denn das Holz war minderwertig, und der Verkauf lohnte nicht. Der Weg war lang und wand sich um zahlreiche Hügel herum, und manchmal waren die Schilder an den Bäumen kaum noch lesbar. So brach schon der späte Nachmittag an, als Rotkäppchen schließlich doch den rechten Weg verließ, um auf einer Abkürzung schneller zum Haus der Großmutter zu kommen. Und weil es so rasch gegangen war, machte Rotkäppchen eine Pause, setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm und sah einem Eichhörnchen zu, das sich in den Wipfeln der Bäume zu schaffen machte.
Das Eichhörnchen verschwand nach einiger Zeit, und Rotkäppchen griff nach seinem Korb, um sich wieder auf den Weg zu machen.
Doch da erschrak es auf einmal furchtbar, denn vor ihm stand der böse Wolf! Und bevor der Wolf etwas sagen konnte, war Rotkäppchen schon aufgesprungen und rannte wie von Sinnen durch den Wald.
Der Wolf saß neben dem Baumstamm und wunderte sich. Er konnte nicht verstehen, warum das kleine Menschenkind weglief. Er wollte doch nur fragen, woher es kam und wohin es ging. Denn er war noch jung und kannte seinen schlechten Ruf bei den Menschen nicht.
Das arme Rotkäppchen aber war blindlings durch den Wald gelaufen. Es stolperte über eine Wurzel und stürzte so unglücklich, daß ihm schwarz vor Augen wurde. Als es wieder zu sich kam, saß der Wolf neben ihm und hatte den Korb mit Kuchen und Wein bei sich.
„Bitte, bitte, friß mich nicht!“ rief das Mädchen und weinte bitterlich.
„Warum sollte ich dich fressen“, fragte der Wolf, „bist du deshalb vor mir weggelaufen?“
„Ja“, schluchzte Rotkäppchen, „du bist doch der böse Wolf.“
Da erzählte der Wolf dem kleinen aufgeklärten Mädchen eine Geschichte, und im Verlauf dieser Geschichte begann Rotkäppchen sich zu wundern. Und schließlich begriff es, daß der Wolf gar nicht böse war.
„Denn alles, was die Menschen nicht verstehen und beherrschen können, das nennen sie böse“, sagte der Wolf zum Schluß.
Inzwischen dunkelte es schon. Rotkäppchen und der Wolf machten sich gemeinsam auf den Weg zum Haus der Großmutter.
„Guten Abend Oma“, rief Rotkäppchen fröhlich, als sich die Tür langsam öffnete. „Schau mal, ich habe dir was Schönes mitgebracht.“
„Guten Abend, mein Kind“, freute sich die Großmutter, „wie schön, daß du mich besuchen kommst. Ja und der Hasso ist auch mitgekommen? Da hat er dich wohl gut beschützt, und du brauchtest keine Angst vor dem bösen Wolf zu haben...“
„Ja“, erwiderte Rotkäppchen, „er ist mein bester Freund.“
Und mehr hat Rotkäppchen zu diesem Thema nicht gesagt. Nicht zur Großmutter und auch sonst zu niemandem. Und weil es nicht so häufig vorkommt, daß der Wolf kleine Mädchen trifft, die ihm am Ende zuhören, wird es wohl noch sehr lange dauern, bis er seinen schlechten Ruf bei den Menschen verliert.
Kommentare
Nicht nur Hélène Grimaud
Macht die Geschichte froh!
LG Axel