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gesehen, die mir Respekt abnötigten. Sich uns so schutzlos auszuliefern, sich so unseren Blicken auszusetzen und dabei Gefahr zu laufen, auf ein Merkmal reduziert zu werden, das fand ich ungeheuer mutig. Ich war interessiert an dieser Frau, nicht als Hobbymaler, sondern als Mensch und als Mann. Ich erahnte eine spannende, komplizierte Biographie, ein gelebtes Leben, Kämpfe, Siege und ja, auch Niederlagen und Brüche. Aber ich war erfasst vom Anblick dieser Frau, von ihrem schönen, entschlossenen Gesicht, von dieser Energie in ihrem Körper. Und ich träumte davon, sie zu berühren.
„Wie viele Sitzungen haben wir pro Modell?“, fragte ich Johannes.
„Ich glaube drei“, meinte er. „Es war von vier Modellen die Rede und von zwölf Sitzungen, macht drei pro Modell“.
„Hmm“, raunte ich selbstvergessen.
Johannes grinste. Es war, als könne er meine Gedanken lesen.
„Sprich sie doch einfach an, wer weiß. Vielleicht freut sie sich. Sie ist vielleicht schon länger nicht mehr angesprochen worden.“
Wieder missfiel mir der Ton. Wie Johannes insinuierte, dass sie an ‚Wert’ verloren habe, empfand ich als geschmacklos. Aber insgeheim konnte ich mich ähnlicher Gedanken nicht erwehren. Ich war in die Jahre gekommen, ich hatte eine Scheidung hinter mir und zwei erwachsene Kinder, mein Bauch war nicht mehr flach und stramm. Ich sehnte mich nach einer neuen Beziehung, nach einer Frau, doch immer, so schien es mir, sehnte ich mich nach Tauben auf dem Dach. Den Spatz in der Hand verschmähte ich.
Aber diese Frau. Dieser Blick. Dieser Stolz. Ich schwor mir am gleichen Abend, sie beim nächsten Mal anzusprechen.
*
Franka und ich gingen ins Kino. Memento. Ein genialer Film. Genial, weil er die Geschichte eines Mannes ohne Erinnerung vom Ende her erzählt. Franka saß neben mir und stellte mit fortschreitender Zeit mehr und mehr Fragen. Sie verstand den Film nicht. Ich saß da, gebannt von Geschehnissen auf Zelluloid und war zunehmend genervt von ihren Fragen. Irgendwann gab sie auf und langweilte sich sichtlich. Ich war hin- und hergerissen. Film oder Frau?
„Sollen wir gehen?“, fragte ich schließlich, dreißig Minuten vor Ende des Films.
„Ich dachte schon, du fragst nie“, säuselte sie mir leise ins Ohr.
Wir gingen in eine Bar unweit des Kinos. Es war schon fast Mitternacht, ich bestellte ein Bier, sie einen Aperol Spritz. Wir unterhielten uns oberflächlich. Sie erzählte von ihrem letzten Urlaub, ich von meinem letzten Buch. Fuerteventura und Ars magica von Nereo Riesco. Es kam keine richtige Stimmung auf. Aber Franka machte mir trotzdem schöne Augen. Sie flirtete. Ich ahnte: Es war ihre Standardeinstellung. Aber ich gestand mir die Wahrheit nicht ein. Ich sah ihre vollen Lippen, ihr kastanienbraunes, glänzendes Haar, ihre großen Augen, ihre glatte, schöne und straffe Haut, und das Verlangen nach Berührung brannte in mir.
„Sag mal“, meinte sie schließlich, „wollen wir noch zu mir gehen? Wir könnten noch ein Glas Wein trinken.“
Ich schaute sie an und hatte Mühe, meine Begeisterung zu unterdrücken. In meiner Wahrnehmung war diese Einladung eine klare Offerte. Ich war mir sicher, es würde zumindest auf einen Kuss, vielleicht sogar mehr hinauslaufen.
„Können wir machen“, sagte ich so betont beiläufig wie möglich. „Ich müsste aber vorher nochmal auf Klo.“
„Ich warte draußen auf dich“, sagte sie knapp, zahlte unsere Getränke und hüpfte vom Hocker. Während sie nach draußen ging, verschanzte ich mich auf der kleinen Toilette. Ich prüfte meinen Atem, inspizierte meine Unterwäsche und zog Kondome aus dem Automaten. Dann fühlte ich mich bereit und ging hinaus.
Eine halbe Stunde später kamen wir in ihrer Wohnung an. Sie war geschmackvoll eingerichtet, die Möbel ließen ein finanzkräftiges Elternhaus vermuten. Franka zog im Flur ihre flachen schwarzen Pumps aus und warf ihren Burberry Trenchcoat über einen Stuhl. Erst jetzt, im hellen Licht der Wohnung, sah ich, dass Franka unter dem weißen Spaghetti Top, das sie zum schwarzen Minirock trug, nichts drunter hatte. Ihre kleinen festen Brüste und ihre Nippel zeichneten sich deutlich ab. Ich spürte, wie mein Körper und Geist auf diese Reize reagierten.
Franka schenkte zwei Gläser Wein ein und kam dann zu mir aufs Sofa. Sie setzte sich dicht neben mich und reichte mir das Glas. Bei der Übergabe strich sie mir kurz über den Handrücken. Härchen stellten sich auf, so empfindlich war ich bereits.
Wir tranken schweigend den Wein und ich glaubte, dass sie auf mich wartete. Auf eine Initiative. Aber ich war wie gelähmt. In mir wüteten Restzweifel, die mir weismachen wollten, dass ich die Signale falsch las. Ich genoss die Stimmung und gleichzeitig fand ich nicht den Mut, das Offensichtliche zu tun.
„Boah, ich bin hundemüde“, sagte Franka nach einer gefühlten Ewigkeit.
Ich hatte es verpatzt. Fünfzehn Minuten später stand ich auf der Straße. Ich spürte meinen Atem und dachte an die ungenutzten Kondome.
*
Bei der zweiten Sitzung war ich sehr nervös. Meine Hände zitterten, ich konnte den Zeichenstift kaum halten. Als Frau Weber hereinkam und uns begrüßte, dachte ich nur: „Jetzt kommt sie gleich, jetzt kommt sie gleich!“. Frau Weber machte keine großen Worte diesmal, sie wollte wohl lediglich herumgehen, die bisherigen Entwürfe begutachten und individuell Tipps geben.
„Sind alle soweit?“, fragte sie schließlich. Ein paar Kursteilnehmer nickten, die meisten schwiegen. Die Tür ging auf, und wie in einem Film wurde das Modell vom Sonnenlicht, welches durch die bodentiefen Fenster des Ateliers hereinfiel, angestrahlt. Leuchtend wie ein Engel ohne Flügel stieg das Modell auf das Podest. Frau Weber ging auf die Frau zu, und das Modell entledigte sich ihres seidenen Bademantels. Die Art, wie die Frau das Textilgewebe von ihren Schultern gleiten ließ, wirkte wie einstudiert. Jede ihrer minimalen Bewegungen war so grazil wie die einer Balletttänzerin. Die Sehnen ihrer Muskeln strafften die Haut darüber. Sie hatte die perfekte Kontrolle über ihren Körper.
Wir begannen zu zeichnen. Die Stille im Atelier war wundervoll. Jeder versuchte so gut es ging, sich aufs Zeichnen zu konzentrieren. Man vernahm vornehmlich das Geräusch von Graphit auf rauem Zeichenpaper. Ab und zu räusperte sich jemand, oder man hörte das Klacken von Frau Webers Stilettos auf dem Stäbchenparkett. Angestrengt hielt ich den Schaft meines Bleistiftes und bemerkte, wie ich bei jedem Blick zu dem Modell verkrampfte. Ich versuchte,