Franka und Freya - Page 4

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wussten wir nur den Vornamen des jeweils anderen. Aber die Tatsache, dass wir ungefähr zur selben Generation gehörten, erzeugte, so glaubte ich, eine innige Verbundenheit. Zu wissen, dass Freya die Wiedervereinigung, Kurt Cobain, den elften September oder die Finanzkrise aus einem ähnlichen Blickwinkel erlebt hatte wie ich, genügte mir um zu denken: Ich bin du und du bist ich.

„Wir sind da“, sagte Freya schließlich und öffnete die Tür zu einer urigen Bar in der Altstadt.
Wir setzten uns in eine schwach beleuchtete Ecke und bestellten zwei Gläser Rotwein. Als die Kellnerin uns zwei Burgunder aus der Côte de Nuits brachte, lächelten wir uns wieder an und prosteten uns zu. Wir nahmen jeder einen Schluck, setzten die Gläser ab und hielten uns daran fest.
„Ich glaube, dass es das Beste ist, wenn wir uns nicht mir unseren Biographien belasten“, sagte Freya. „Sagen Sie mir lieber, was Sie an mir finden.“
Ich war ein weiteres Mal verblüfft von ihrer Souveränität. Es wirkte so gelassen und doch so bestimmt und sicher, dass ich gar nicht anders konnte, als mich darauf einzulassen.
„Ich war vom ersten Moment fasziniert“, begann ich zögerlich. „Sie schweben. Sie haben einen Gang, der eine ungeheure Leichtigkeit besitzt. Sie haben Beine, die Weiblichkeit ausstrahlen, ein Becken und eine Taille, die so weich ineinander greifen, dass es schmerzt. Ich mag Ihren formschönen Busen und ich bin wie betäubt von Ihrem Gesicht. Diese schwarzen Locken, diese grünbraunen Augen, die mich hypnotisieren und mich meiner Kraft und Konzentration berauben. Ich könnte Sie den ganzen Tag angucken und ich bin froh, dass ich genau das drei Mal tun durfte. Ich schaue Sie an und ich weiß: Ich liebe die Frauen. Ich liebe sie alle.“
Sie lächelte mich an.
„Und ich habe Sie gerne gezeichnet“, fügte ich hinzu.
Sie schwieg. Aber sie strahlte.

Ich hätte Fragen gehabt. Ich hätte darüber sprechen können. Fragen, ob es ein Krebs war. Fragen, ob sie ihre Arbeit als Aktmodell als Mutprobe verstand. Fragen, ob sie Kinder, einen Ehemann oder gar eine Freundin hatte. Aber ich verstand wohl, dass Freya genau das nicht wollte. Ich war eine Zufallsbekanntschaft und ich war an ihr interessiert, dessen war sie sich sicher. Und jedes Gespräch hätte diesen Zauber, der in dieser Bar zwischen uns entstand, zerstören können. Und ich war schlau und auch alt genug, um mich darauf einzulassen.

„Wir gehen zu mir“, sagte sie keine zwanzig Minuten später. Ich nickte, bezahlte die Getränke bei der Kellnerin und half Freya in den Mantel. Als wir vor die Tür traten, war es recht kühl. Instinktiv hob ich meinen Arm und Freya hakte sich bei mir unter. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu ihr. Durch die körperliche Nähe spürte ich ihre weiblichen Rundungen und passte mich ihrem Bewegungsrhythmus an. Irgendwann jedoch blieb ich einfach stehen, drehte mich zu ihr und küsste sie auf den Mund. Sie ließ es geschehen. Mehr noch, es schien, als freue sie sich über meine Initiative und über unser unausgesprochenes Verständnis. Ein schweigsamer, inniger Kuss. Ihre Lippen waren weich und saftig, ihre Augen wach und durchdringend. Als unser Kuss endete, sahen wir uns an. Sahen zueinander durch.

Wir spazierten weiter, zunächst ohne Berührung. Dann sah ich aus den Augenwinkeln, dass sie ihre Hand nach mir ausstreckte. Ich ergriff sie und fühlte, wie sich ihre warmen Finger um meinen Handballen schlossen. Diese Berührung elektrisierte mich und ich war verwundert darüber, welche Kraft doch in so einem eigentlich alltäglichen Kontakt steckte. Welche erotisierende Macht die Berührung einer Frau noch über mich hatte.

Irgendwann standen wir vor einem Haus.
„Wollen wir?“, fragte Freya.
„Ja“, sagte ich entschlossen.
Sie holte ihren Schlüssel heraus und öffnete mir die Tür.

Ich ging hinein. Sie folgte mir.

*

Zwei Wochen nach unserem letzten Treffen und eine Woche nach der Sache mit dem Anrufbeantworter sah ich Franka wieder. Aber sie sah mich nicht.

Ich war in der Uni-Bibliothek und recherchierte etwas zu Cervantes’ La gitanilla. Ich hatte gerade zwei, drei Bücher Sekundärliteratur zum Thema gefunden und mich an einen Tisch in der Nähe der bodentiefen Fenster gesetzt. Von meinem Platz aus konnte man direkt auf die Donau hinunter schauen. Viele Paare gingen dort gerne entlang des Ufers spazieren. Ich weiß nicht, wieso, aber als ich zufällig aus dem Fenster schaute, fielen mir ein junger Mann und eine junge Frau auf, die sich offenbar stritten. Der junge Mann versuchte, die sich von ihm entfernende Frau mit ein paar schnellen Schritten einzuholen. Als er sie erreicht und zum Umdrehen gezwungen hatte, erkannte ich sie trotz der Entfernung sofort: Franka. Sie schaute den jungen Mann wütend an und versuchte, ihm ins Gesicht zu schlagen. Er aber hielt ihre Arme fest und drückte sie an sich. Ein paar umstehende Passanten blieben stehen, offensichtlich in der Annahme, das hier ein Akt der Gewalt bevor stünde. Aber ein paar Sekunden später war die Aggression aus beiden Akteuren entwichen und sie küssten sich plötzlich leidenschaftlich. Die umstehenden Passanten gingen beruhigt weiter und ich lachte kurz und heftig auf. So sehr, dass ich für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit aller sich in der Bibliothek befindlichen Leute auf mich zog. Ich machte eine Geste der Entschuldigung und wandte mich wieder den Büchern zu.

Ich merkte sehr bald, dass ich mich nicht auf die Lektüre würde konzentrieren können. Zu viele Gedanken und Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Wer war der junge Mann? War ich nur benutzt worden? Stritten sie sich wegen mir? Warum hatte sie mir nie von dieser Liaison berichtet?

Als ich mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, machten sich in mir die verschiedensten Empfindungen breit: Wut auf Franka, die mich zum Spielball ihre Liebeleien degradiert hatte, Scham aufgrund meiner Naivität, Hass auf alle Frauen und Neid auf Frankas Freund, der sie berühren, küssen und womöglich mit ihr schlafen durfte. Ich kam zuhause an und spürte einen Knoten in meiner Brust, hervorgerufen durch den Cocktail aus giftigen Gefühlen. In meinem Zimmer schmiss ich mich aufs Bett wie ein pubertierender Jugendlicher und weinte und schrie in mein Kissen. Mein Schmerz hielt eine gute Stunde an. Doch dann folgte, völlig unerwartet, eine Katharsis. Ich saß in meinem kleinen Studentenzimmer auf dem Rand des Bettes und verstand, dass Frauen Gefäße waren. Schlichte, schlechte, schöne, schreckliche Gefäße, mit und ohne Verzierungen, heil oder kaputt, löchrig oder lädiert und dicht oder durchlässig. Das Entscheidende aber war nicht die Hülle, nicht das Gefäß an sich, sondern der Inhalt. Und Franka, so verstand ich nun, war eine der schönsten Vasen, die ich je gesehen hatte. Allein, es war keine Blume darin, nicht einmal Wasser. Franka war eine schöne, leere Vase.

Von da an reagierte ich nicht mehr auf ihre Anrufe. Wenn ich sie im Seminar sah, grüßte ich höflich und setzte mich an einen anderen Platz. Ihre Blicke erwiderte ich nicht und ich glaube, sie verstand. Und ich verstand, dass ich etwas Entscheidendes über Frauen gelernt hatte. Ich hasste Franka nicht, aber ich liebte Franka auch nicht. Ich akzeptierte lediglich ihre und meine Menschlichkeit. Ich wurde angenehm gleichmütig, was meinen Umgang mit Frauen anging. Ich war weniger verbissen und die Frauen, so glaube ich, spürten das.

*

Ich hatte noch immer meinen Mantel an, als sie aus dem Bad kam. Wir hatten im Flur begonnen, uns zu küssen und waren dann küssend in die Wohnung gegangen. Schritt für Schritt, Kuss um Kuss.
„Zieh dich noch einmal aus für mich“, sagte ich. „Ich möchte dich noch einmal als Modell sehen.“
Wir waren dann in ihr Schlafzimmer gegangen und sie hatte den seidenen Bademantel aus ihrer Tasche geholt und war in ihrem Bad verschwunden. Ich blieb zurück und zwang mich dazu, nicht herum zu stöbern oder mich umzuschauen. Meine Neugier galt ihr und ihrem Körper, nicht ihrer Geschichte oder ihrem Hintergrund.

Als sie aus dem Bad kam, reduzierte das Licht aus dem Badezimmer sie zu einer schwarzen Silhouette. Ich erkannte ihren Körper durch den seidenen Bademantel. Nach und nach gewöhnten meine Augen sich an das Licht, und wo eben nur Schemen erkennbar waren, sah ich jetzt klare Formen und Farben. Freya näherte sich mir langsam, fast zögerlich. Als sie ganz nah bei mir war, nahm ich zuerst ihren Geruch wahr. Ein sanftes Parfum weiblicher Wärme. Ich hob meine Hände hoch, umfasste mit beiden Handflächen ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. Dann öffnete ich ihren seidenen Bademantel und ließ ihn von ihren Schultern gleiten. Ihr üppiger, formschöner Busen verlangte nach meiner Hand. Ich hielt diese schöne Rundung mit meiner linken Hand und küsste und sog an ihrem Busen. Dann schaute ich ihr wieder in die Augen, ertastete mit der rechten Hand die flache, leicht vernarbte Stelle daneben, beugte mich hinunter und küsste Freya auch hier. Es tat meiner Erregung keinen Abbruch. Ich hatte Lust auf Freya und diese Lust schien unbezähmbar.

Freya begann daraufhin, meinem Mantel auszuziehen und mich nach und nach meiner Sachen zu entledigen. Im Halbdunkel legte sie Schicht um Schicht frei, bis wir nur noch zwei nackte Körper waren, die sich nach Verbindung sehnten. Freyas feuchter Atem, meine fiebrige Stirn, die Wärme unserer sich berührenden Fingerspitzen regten unsere Geister an. Die Energie unserer Gedanken, die Hitze unserer Körper, nahmen unserer Begegnung ihre Gewöhnlichkeit und machten sie zu einem spirituellen Erlebnis. Dieses Gefühl, durch das Ertasten der Haut des anderen zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen, hatte etwas Mystisches. Mit jeder Berührung bekam ich das Gefühl, zu einer neuen Wahrheit zu gelangen. Wir waren Gefäße, randvoll mit Leben, wir schwappten über, und unsere beiden Ströme wuchsen zu einem reißenden Fluss der Leidenschaft heran, der alles mit sich riss, auch und zuallererst den Verstand. Ich dachte nicht mehr nach, ich fühlte nur noch. Ich fühlte eine unmenschliche Begierde und vergrub mich in Freyas Körper wie in einer Höhle. Und Frey bot und gab mir alles: Schutz, Liebe, Lust und Leiden. Und ich nahm es alles in mich auf. Gedankenlos.

Als es zu Ende war, lagen wir völlig erschöpft und glücklich nebeneinander. Gefühlt lagen wir, beseelt vom Sex, über eine Stunde nur so da. Draußen wurde es dunkel und die Tagewerker machten den Nachtschwärmern Platz. Ich vernahm die Geräusche der Stadt wie durch Watte.

„Es wird Zeit, dass du gehst“, sagte Freya schließlich.
„Werden wir uns wiedersehen“, fragte ich, hoffnungsvoll.

Aber eigentlich kannte ich die Antwort.

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