Großmama, mein Stern in der Dunkelheit - Page 2

Bild von Annelie Kelch
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erst recht nicht, wenn mir jemand Naschkram schenken oder mir weismachen wolle, er habe zu Hause ein ganz, ganz süßes Hündchen, das nur darauf warte, mit mir zu spielen. ‑ „Es gibt Menschen, Eddalein“, hatte Mami gesagt, „die keinen Respekt vor Kindern haben und ihnen große Schmerzen zufügen oder gar töten. Einige sind wohl auch krank und gehören unter ärztliche Aufsicht, aber das kann man diesen Menschen nicht ansehen.“
Ich bin an jenem Abend, als Omi Kirschmann ins Krankenhaus musste, ganz tief un­ter meine Bettdecke gekrochen und habe gedacht: Wenn jetzt Onkel Ansgar in mein Zimmer kommt und mich kitzeln will, dann schreie ich so laut, dass Tante Hetty aus dem Bett fällt und die Polizei ruft. Aber Onkel Ansgar kam nicht in mein Zimmer, und Tante Hetty, die über uns wohnt, brauchte nicht aus dem Bett zu fallen, und irgend­wann habe ich meinen Kopf wieder auf das Kissen gebettet und bin in einen tiefen Schlaf gefallen – bis mich etwas an der Nase gekitzelt hat und ich ganz laut niesen musste. In meinem Zimmer brannte die kleine Leselampe, und ich blinzelte furcht­sam unter meinen halb geöffneten Augenlidern hervor, die ich am liebsten sogleich wieder geschlossen hätte: Auf meiner Bettkante hockte doch tatsächlich eine riesen­hafte Gestalt, die eine stinkende Zigarre rauchte. Jetzt ist Onkel Ansgar doch in mein Zimmer gekommen, habe ich gedacht, und mir ist ganz bang zumute geworden. Ich wollte gerade zu schreien beginnen, damit Tante Hetty nun doch aus dem Bett fiele und wach würde, als eine tiefe Frauenstimme in mein Ohr raunte: „Fürchte dich nicht, Eddalein, ich bin es nur, deine Oma Janeke.“ Himmel, war das eine schauderhafte Überraschung! Vor lauter Angst wäre ich fast selber aus dem Bett gefallen; aber ich wollte tapfer sein, setzte mich auf und blickte Großmama Janeke mitten ins Gesicht, das von silbergrauen Haaren umrahmt war. Sie hatte kobaltblaue Augen mit buschigen schwarzen Brauen und eine lange spitze Nase. Über ihrem schmalen Mund wuchs ein spärliches dunkles Bärtchen, und aus ihrem energischen Kinn, nun ja, da spross dieses lange schwarze Haar hervor, das mich an der Nase gekitzelt hatte. Oma Janeke blickte mich lange an, und mir wurde ganz warm ums Herz unter ihrem liebevollen Blick. Ich streckte meine Arme nach ihr aus, und sie beugte sich zu mir hinunter und gab mir einen dicken Kuss auf die Stirn. „Ich möchte dir jemanden vorstellen, Edda“, sagte sie mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme und rief dann leise in die Diele hinein: „Komm jetzt bitte ins Zimmer, Bonny.“ Mir zitterten vor Aufregung die Beine, denn schließlich war Omi Janeke eine gefährliche Seeräuberin. „Das ist Anne Bonny, meine beste Freundin und die tapferste Piratin, die ich kenne, Edda“, sagte Omi Janeke. Ihre Stimme bebte vor Stolz. Ich starrte die Frau an, die in mein Zimmer getreten war. Sie trug einen schwarzen Piratenhut auf ihrer wallenden Lockenmähne und war noch größer als Papi, der Mami um fast zwei Köpfe überragte. Aus der Ta­sche ihrer Männerhose ragte die Spitze eines Entermessers, und im Gürtel, der um ihre Joppe geschlungen war, steckte ein funkelnder Dolch. Das sah vielleicht gefähr­lich aus; aber Anne Bonny lächelte mich freundlich an und sagte zu Oma Janeke: „Wahrhaftig, Stella, eine feine Enkelin hast du, die wird uns gut munden, nachdem wir sie geschlachtet haben.“ Bei diesen gemeinen Worten wären mir vor Entsetzen fast die Augen aus dem Kopf gefallen. „Lass gefälligst deine dummen Scherze, Bonny“, schimpfte Großmama Janeke und warf Anne Bonny, die wie ein Honigku­chenpferdchen griente, einen fürchterlichen Blick zu. Vermutlich habe ich gar zu ängstlich dreingeschaut, denn Oma Janeke strich mir zärtlich übers Haar und sagte: „Bonny meint es nicht böse, Kleines. Gewiss, in ihrer Seele haust ein derber Humor, aber sie hat ein Herz aus Gold und mir schon viele Male das Leben gerettet. Auf den sieben großen Meeren dieser Welt herrschen nämlich raue Sitten, musst du wissen.“ Ich nickte beklommen. „Weißt du, Edda“, fuhr Omi Janeke fort. „Ich bin sehr krank und muss bald sterben, und Hugo, dein Papa, ist immer noch böse mit mir. Deshalb hat es wenig Sinn, dass ich mich von ihm verabschiede. Aber dir wollte ich unbedingt „Adieu“ sagen. Ich weiß nämlich, dass du abends, wenn deine Mama das Licht ge­löscht hat, vor lauter Angst nicht einschlafen kannst und dass dein Papa Strom spa­ren will; er war schon als Kind sehr sparsam und hat sein Taschengeld selten für Naschwerk ausgegeben. Und deshalb werde ich von nun an dein heimliches Licht in der Dunkelheit sein. Schlaf jetzt, meine Kleine, und lösche getrost die Lampe. So­lange du noch Angst vor der Dunkelheit hast, wird es niemals mehr finster in deinem Zimmer sein. Und bitte, Eddalein, verrate deinem Papa nicht, dass ich hier gewesen bin; er regt sich nur unnötig auf. Adieu, mein Kind.“
Ihre Stimme war fest, und sie küsste mich auf die Wange, aber ich sah, dass sie weinte, und auch mir war ganz furchtbar zum Heulen zumute. – Als Omi Janeke und Bonny fort waren, fühlte ich mich einsamer und verlassener als jemals zuvor. Fast hätte ich geglaubt, ein Spuk habe mich genarrt; aber in der Luft hing immer noch der Rauch von Oma Janekes dicker Zigarre. ‑ Ich lag minutenlang ganz still und mit offenen Augen im Bett und starrte an die Decke. Zwischendurch kamen mir immer mal wieder die Tränen – we­gen Omi Janeke, weil sie doch sterbenskrank war, und ich dachte darüber nach, was sie wohl damit gemeint haben könnte, dass sie „von nun an mein heimliches Licht in der Dunkelheit sein wolle“. ‑ Das wirst du feststellen, Edda, wenn du deine Lese­lampe löscht, hörte ich Großmama Janeke sagen. Hab nur Vertrauen zu mir. Ihre Stimme stieg aus der Tiefe meines Herzens empor. ‑ Es fiel mir schwer, die Lampe auszuknipsen, das könnt ihr mir glauben, aber weniger aus Angst vor bösen Ge­spenstern, die mich sonst ganz furchtbar zwiebelte, als vor der großen Enttäuschung, die Omi Janeke mir bereiten würde, wenn sie mich angeschwindelt hätte.
Nachdem ich schweren Herzens das Licht gelöscht hatte und in der einsamen Dun­kelheit mutlos darauf wartete, dass Oma Janeke zu mir zurückkehrte, sprang mit einem Mal aus der Ecke neben meinem kleinen Bücherschrank ein silberhelles, win­ziges Blinklicht hervor, das wie wild umherhüpfte und in Windeseile zu einem wun­derschönen Stern erblühte. Und als ich meinen Kopf hob, um ihn näher zu betrach­ten, entdeckte ich ein langes schwarzes Haar, das aus einem der unteren Zacken spross. Da musste ich ganz doll weinen, weil ich tief in meinem Herzen spürte, dass Großmama Janeke gestorben war. Ich schlief in jener Nacht sehr spät ein, denn es fiel mir schwer, meine Augen von dem wunderschönen Stern abzuwenden. Seit jener Stunde fand sich jeden Abend, sobald ich das Licht gelöscht hatte, Oma Janekes Stern in der Zimmerecke neben meinem Bücherschrank ein, Nacht für Nacht, und leuchtete meine Angst weg – bis ich in die Schule kam und mich nimmermehr vor der Dunkelheit fürchtete.

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30. Okt 2016

Auch dieser Text kriegt (s)einen Stern:
Poetisch - fein - und höchst modern ...

LG Axel

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