Pfefferminzbonbons

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von Heide Nöchel (noé)

„Komm! Sei doch nicht so!“, Tina legte einen verstörenden Enthusiasmus an den Tag, während ich mich mit beiden Händen an meinem Kaffeebecher festklammerte. „Du musst doch mal wieder unter Leute kommen! Steffen hätte das auch gewollt!“

Woher wollte sie wissen, was Steffen gewollt hätte? Ich hoffte nur, sie würde mich endlich wieder alleine lassen.

Aber den Gefallen tat sie mir nicht. Voller Energie katapultierte sie sich vom Stuhl hoch, stellte mit einer fließenden Bewegung ihren leeren Kaffeebecher in die Spüle und drehte sich wieder zu mir. Mich halbschräg von hinten umarmend, legte sie ihre Wange auf meinen Kopf und versuchte, mich zu überzeugen: „Nun mach schon, raff dich auf. Es wird dir gefallen. Los, komm. Mir zuliebe.“

Sie würde mir keine Ruhe lassen. Seufzend ergab ich mich und schon landete mein noch halbvoller Kaffeebecher ebenfalls in der Spüle.

Sie hatte recht, die Luft war draußen viel besser, frisch und anregend. Ich atmete einmal tief durch und schaute um mich, bevor ich zu ihr ins Auto stieg. So ein schöner Juni-Morgen, wie ein Versprechen.

Schon draußen konnten wir die Pfefferminze riechen, als wir beim Gemeindezentrum ausstiegen. Ihre Überzeugungsarie hatte so lange gedauert, dass der Kurs bereits angefangen hatte. Je näher wir der Küche kamen, desto intensiver wurde der Geruch und als Tina die Tür öffnete, herrschte ein Gewusel wie auf einem Basar: Weibliche Wesen jeden Alters und zwei junge Männer umringten Herrn Wagner, der das Reich und seine Untertanen wie ein großväterlicher Fels in der Brandung überragte. Pfefferminzbonbons herstellen - Tina drängte sich sofort zwischen die anderen Wissbegierigen und hatte jetzt einen neuen Fokus.
Behutsam schloss ich die Tür wieder, denn so viel Leben auf einmal überwältigte mich wie ein Tsunami.

Im Vorraum herrschte zwar auch Trubel, Kinder rannten umher, versuchten, sich zu fangen oder zu entwischen, aber es waltete ein wohltuendes Halbdunkel. Zweisitzerbänke standen hintereinander und an der Stirnwand lief auf einem Großbildschirm irgendein Tierfilm. Ich setzte mich in die letzte Bank. Ja, das war viel angenehmer und auch der süßliche Pfefferminzgeruch schien nicht mehr so intensiv.

Die Kinder tobten und niemand störte sich daran. In der Bank genau vor mir saß ziemlich mittig ein Handwerker in einer blauen Latzhose, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in den Händen. Zwei Jungs landeten bei ihrer wilden Tollerei neben ihm. Es gab ein bisschen Gezappel, weil er ja mittig saß und neben ihm beidseits nicht viel Platz blieb. Der Mann schreckte auf und protestierte, die Bank wackelte ein wenig, die Jungs lachten und stoben davon.

Der Handwerker, ein Trumm von Mann, streckte seine Beine aus und lehnte sich zurück.
„Aua, meine Knie“, ließ ich mich hören und beugte mich nach vorne, neben sein Ohr. Er hatte mich bis dahin noch nicht bemerkt, erschrak zwar und setzte sich wieder aufrecht, blieb aber mit seinem Ohr nicht weit von meinem Mund entfernt. In seine düstere Stimmung hinein sagte ich: „Wenn man sich nicht mittig setzt, bleibt seitlich von einem noch Platz für andere.“
Mich traf ein brummiger Seitenblick und er raunte mir zu: „Ja, wenn man das will.“ „Natürlich“, war meine Antwort, aber wir blieben in unseren Positionen sitzen, sein Ohr in der Nähe meines Mundes.
Was war das? Etwas Vertrautes …
Wieder blitzte mich ein Seitenblick von ihm gefährlich-abwehrend an und er knurrte etwas wie: „Keine Zeit für Kegelspiele …“
„Hm? Das habe ich jetzt nicht verstanden“, raunte ich zurück.
„Macht nix“, meinte er irgendwie widerstrebend, drehte aber jetzt seinen Kopf zu mir und betrachtete mich genauer – und das war gar nicht unangenehm. Ich hielt still und seinem Blick stand.
Als hätten wir uns abgesprochen, erhoben wir uns beide gleichzeitig und schlenderten im gleichen langsamen Schritt nebeneinander her.
„Ich muss noch was kontrollieren“, murmelte er brummig.
„Und ich muss nach meiner Freundin sehen“, ergänzte ich.
Wir standen einander gegenüber, getrennt oder verbunden von einer Art unsichtbaren Plasmas.
„Bis gleich“, meinte er dann.

Und wirklich trafen wir eine Viertelstunde später – als hätten wir die Uhrzeit verabredet – aus unterschiedlichen Richtungen wieder aufeinander.
Er schlenderte gelassen in meine Richtung – ein Bär von Mann – und streckte mir einen vielfach gefalteten Zettel entgegen. Als ich die erste Falzung öffnete, stand da: „Kannst du nachher lesen.“ Also entfaltete ich das Origami gar nicht weiter und steckte den Zettelknubbel ein.
Er stand dicht vor mir, überragte mich, schaute auf mich hinunter und ich fühlte mich von seinem Blick zärtlich gestreichelt. Ein freundliches Verlangen im Hintergrund? „Also dann doch Kegelspiel“, griff er nach meiner Hand und schmunzelte so gerade eben.

„Ich bin viel zu alt für dich“, sagte ich. Er lachte jungenhaft: „Ganz was Neues! Heute mit Zitronencreme!“, nahm er mich auf den Arm.
Die nervöse Spannung zwischen uns verflüchtigte sich und sprang übermütig vor uns her, hinaus in den Juni-Morgen, der uns wie ein Versprechen erwartete.

noé/2016

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