Als Mama starb

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von Heide Nöchel (noé)

Ihre größte Sorge war immer gewesen: „Hoffentlich bleib ich klar im Kopf, alles andere wird schon gehen.“ Das „trainierte“ sie, Leselupenbewaffnet, mit Myriaden von Kreuzworträtseln, lustigen Silbenrätseln und vor allem mit der Lektüre von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Büchern.

Nach dem Tod meines Vaters, als sie allein in ihrem Haus zurückgeblieben war, beschäftigte sie noch eine andere Frage: „Wie wird man mich wohl mal finden, wie die armen Rentner nach sechs Monaten, schon total verwest?“

Zumindest dahingehend konnte ich sie „beruhigen“, denn mein Bruder kam nach Dienstschluss zweimal die Woche kurz rein, um nach ihr zu sehen und zu fragen, ob sie noch etwas bräuchte, was ich am Wochenende für sie zu besorgen vergessen hatte; als Fernsehmumie würde sie also nicht enden. Außerdem telefonierten wir jeden Abend miteinander, denn ich konnte nur am Wochenende zu ihr fahren, zwischen uns lagen ca. 600 km. Und einige Male hatte ich mir schon den Unmut meines Bruders zugezogen, wenn ich ihn um 11 Uhr abends anrief, ich könne Mama nicht erreichen. Er musste sich dann ins Auto setzen und nachschauen fahren, immerhin auch eine knappe halbe Stunde Weg. Jedes Mal jedoch hatte sie das Telefon einfach nicht gehört, weil sie sich im Nebenraum aufhielt, total erstaunt, um „diese Zeit noch den Jungen“ zu sehen.

Ihr Gehör war tatsächlich auch schlechter geworden, ihr Sehvermögen eingeschränkt, und nach etlichen Krankenhausaufenthalten wegen ihrer Beine versagten auch diese ihr inzwischen den Dienst. Außerhalb des Hauses konnte sie sich nicht alleine bewegen, selbst in den Garten hinter dem Haus, den Papa angelegt und so wunderbar gepflegt hatte, mochte sie nicht ohne Begleitung gehen, denn die Einbruchssicherung, die er genial erfunden hatte, war ihr zu kompliziert zu entfernen. Um den Garten kümmerte sich nach Bedarf ein Freizeitgärtner, dessen Frau sich einmal in der Woche der Sauberkeit im Haus annahm.

Innerhalb des Hauses konnte Mama sich prima bewegen, naja, prima, wie das halt so ist, wenn man nicht mehr die Jüngste ist. Mein Bruder hatte ihre sämtlichen Brücken von den Spannteppichen genommen, nachdem sie einige Male darüber gestolpert und hingefallen war, auch eine Beule und ein blaues Auge bekommen hatte, weil sie die Füße nicht hoch genug hatte heben können.

Für kleine Transporte innerhalb der Wohnung bediente sie sich eines Rollators. Das ging natürlich nur auf einer Wohnebene. Das Schlafzimmer lag im 1. Stock, die Waschmaschine stand im Keller, und genau das hatte schon zu einer brenzligen Situation geführt, jedenfalls einer, von der sie berichtete: Den Arm voller Schmutzwäsche war sie die Treppe vom ersten Stock hinuntergegangen, ohne sich am Geländer festzuhalten. Die Treppe machte einen Knick auf dem Halbstock, sie trat fehl und fiel, mit beiden Armen die Wäsche fest umklammernd. Auf dem Halbstock war sie zu liegen gekommen, nachdem sie sich den Kopf an der gegenüberliegenden Wand gestoßen hatte. Das hätte auch ganz anders ausgehen können …

Aber, wenn man sein Leben lang gewohnt war, resolut die Richtung anzugeben, ja, sogar den verdutzten Vertreter der Gemeinde vor der Tür hatte stehen lassen (nicht, ohne ihm vorher noch die Blumen abzunehmen), als der an einem runden Geburtstag, zwangsverpflichtet, zum Gratulieren kam („Der Bürgermeister ist noch nicht mal selbst aufgetaucht!“), war es wohl schwer, sich selber einzugestehen, dass man nun nicht mehr ALLES konnte.

So kam – neben dem Wochengroßeinkauf – nun auch die Übernahme der Wochenwäsche auf mich zu: Freitag nachts gleich die Wäsche in die Maschine, das Waschprogramm abwarten, währenddessen mit Mama die neusten Neuigkeiten austauschen – denn sie hatte immer bis in die Puppen auf mich gewartet, da haben wir oft bis 2 Uhr nachts gekakelt –, und danach die Wäsche aufhängen, damit sie es schaffen konnte, bis zum Sonntagnachmittag trocken zu sein, wenn ich wieder fahren musste.

Mit der Zeit hatte es sich eingespielt, dass ich die lange Fahrt nicht mehr wöchentlich, sondern zweiwöchentlich oder sogar nur einmal im Monat zu machen hatte, je nach Bedarf. Wahrscheinlich hatte da der Kaplan seine Hand im Spiel, vermute ich; er kam einmal wöchentlich wegen der Krankenkommunion und zum Tee und hatte wahrscheinlich etwas in der Richtung gesagt, denn eines Tages fragte meine Mutter mich ganz ungewohnt und aus heiterem Himmel: „Sag mal, Kind, hast du eigentlich kein eigenes Leben? Du hast doch sicher auch selber noch was zu erledigen.“ Das klang doch sehr nach ihm …

Ihr neuester Krankenhausaufenthalt war durch ein unerklärliches Schwindelgefühl bedingt. Da man sie noch keiner Station hatte zuordnen können, war sie bereits seit einer Woche in einer Art „Auffangstation“ und dazu inzwischen noch ohne Telefon, weil sie für das mitgenommene Handy das Ladekabel vergessen hatte.

Am nächsten Tag, einem Montag, stand für mich eine Operation an, von daher bat ich die Schwester, ob man meiner Mutter nicht die Möglichkeit einräumen könnte, doch noch ein Telefonat zu empfangen. Nach einigem Zögern erklärte sich die Schwester bereit, Mama – „Aber nur ganz kurz, bitte!“ – das Stationshandy zu bringen. So hörte ich mir also an, wie schlecht es ihr ging und dass sie sich schon mehrere Male hatte übergeben müssen, immer noch nicht hatte man die Ursache für ihren Schwindel gefunden: „Morgen soll ich ja in die Röhre. Hoffentlich finden sie endlich was.“ „Bestimmt, Mama, und wenn sie erstmal die Ursache haben …“ „Hoffen wir’s. Und morgen bist du ja dran. Alles Gute, Mädchen!“ Dann folgte unser abendliches Ritual: „Gute Nacht, Mama, schlaf schön. Und nicht das Atmen vergessen!“ „Nein, denn das ist so wichtig!“

Als ich am nächsten Tag aus der Narkose erwachte, sah ich zu meinem Erstaunen, dass meine Tochter das Zimmer betrat, zögerlich gefolgt von zwei Krankenpflegern, die sich dezent im Hintergrund aufhielten. Dass meine Tochter kam, war äußerst ungewöhnlich, denn sie lebte 160 km entfernt und besaß kein Auto.

Sie kam mit einem süßsauren Lächeln langsam auf mich zu, da konnte meine einzige Frage nur lauten: „Die Oma?“ Sie nickte bestätigend und setzte sich zu mir.

Die Krankenpfleger verließen den Raum wieder, wohl froh, dass ich keine Erste Hilfe benötigte, und meine Tochter berichtete, dass sie von meinem Bruder informiert worden sei, weil er mich ja nicht hatte erreichen können, und dass sie nicht gewollt hatte, dass ich telefonisch davon erführe. Er hatte ihr auch erzählt, dass Mama nachts bei einer Kontrolle tot in ihrem Bett aufgefunden worden war. Sie war an ihrem Erbrochenen erstickt. Wiederbelebungsversuche hätten nichts mehr gebracht.

Wahrscheinlich war das auch gut so, im Endeffekt, denn wenn sie von Erfolg gekrönt gewesen wären – weiß man, wie viel von meiner Mutter noch übrig gewesen wäre? Möglicherweise wäre ihre größte Befürchtung eingetreten, zwar wäre alles wieder in Ordnung gekommen, nur halt eben ihr Kopf nicht mehr …

Ich war nur froh, dass ich am Vorabend darauf bestanden hatte, noch einmal mit ihr zu sprechen, obwohl sie das Atmen ja dann doch hatte „vergessen“ müssen.

Ihr „Alles Gute, Mädchen!“ habe ich über die Jahre noch im Ohr.

© noé/2019

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