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auf den Boden.
"Immer mit der Ruhe! Auf ein paar Minuten kommt's jetzt wohl nicht mehr an, oder?"
"Das nicht. Aber hätten Sie die anderen nicht gleich mitbringen können?" Baldwin kann nicht stehen bleiben. Er läuft vor Rodolphe hin und her.
"Unter Umständen hätten wir dann die Brücke nicht mehr wiedergefunden, über die wir angeblich müssen. Der Signore steht da nämlich schon seit einiger Zeit und wartet auf uns!", erklärt Rodolphe und grinst noch ein bisschen unverschämter als bisher.
"Na …so was? Die anderen haben die Brücke gefunden und waren auf dem richtigen Weg?", staunt Zeramov. "Hätt' ich wirklich nicht gedacht."
"Hier wird überhaupt wenig gedacht", schimpft Baldwin. "Wenn uns dieser Tölpel jetzt nicht mehr zurück zu der Brücke führen kann, dann ...?"
"Kein Problem, Chef!", unterbricht Rodolphe und stoppt somit einen aufkeimenden Wutausbruch. "Ich hab' den Weg genau im Kopf."
"Hoffen wir's - hoffen wir's! Also los! Fahren Sie voraus. Aber langsam, ja?" Baldwin nimmt wieder seinen Platz hinter Cassius ein.
Kurz darauf stellt Cassius seine Fahrkünste unter Beweis. Rodolphes Tempo mag für ein wendiges Zweirad kein Problem sein, der schwere Mercedes, den Baldwin erst vor einigen Tagen erworben hat, scheint für diese Geländetour weniger geeignet.
"Ich hab' dem Kerl doch gesagt, dass er langsam fahren soll!" Baldwin flucht bei jeder Unebenheit der Schotterstraße. Die hervorragende Polsterung der Rücksitze tut ihres dazu, diese Fahrt zu einem Strapaziertest für sein Nervenkostüm umzufunktionieren. Immer wieder setzt er, der ewige Fuchtler, der sich nirgends festhält, zu unfreiwilligen Höhenflügen gegen die Wagendecke an.
Cassius grinst, Zeramov kämpft gegen einen Lachkrampf an und Rodolphe ...?
Der fährt unbeirrt und versucht sich dabei zu erinnern, ob es von einem markanten Punkt aus -einer einzeln stehenden, mächtigen Buche- rechts oder links abgehen sollte.
* * *
In dem alten, mit den Jahren fast völlig heruntergewirtschafteten Ford bei der Brücke sitzen fünf Personen. Alle rauchen Zigaretten und warten ungeduldig auf die Rückkehr Rodolphes.
Zwei nicht mehr ganz junge Herren in dunklen Nadelstreifenanzügen haben auf dem Rücksitz eine reichlich geschminkte, wie zum Bühnenauftritt vorbereitete Dame zwischen sich. Mit geistreichen Bemerkungen ist die schon etwas reifere, aber immer noch sehr attraktive Blondine seit Längerem nicht mehr aufzu-heitern.
"Mon dieu, ça dure! Wir sollten zurück ins Dorf fahren", erklärt sie eben in einem Tonfall, der keine Zweifel offen lässt. Es klingt wie 'Jetzt warten wir schon fast zwei Stunden ...!' und wird auch so verstanden.
"Ja, es dauert, ma chère!" bestätigt der Herr auf dem Beifahrersitz und wendet sich dabei halb um. Seine Flirts mit allem, was weiblich und attraktiv ist, haben ihm gewisse Verhaltensweisen zur Gewohnheit werden lassen. Nur - in dieser Situation hat die Schöne keinen Nerv für seinen verschleierten Hundeblick.
Gerade jetzt erreicht die Glut ihrer Zigarette, die sie mit silberner Spitze raucht, den Filter. Ein scharfer Geruch scheint die Nase des Fahrers gereizt zu haben.
"Marlène, Ihr Filter macht an schrecklichen Gestank!"
"Jaja, schon gut, Docteur." Marlène reicht ihrem rechten Nachbarn die Zigarettenspitze zum Auslöschen. "Et alors? - Fahren wir?"
"Dio, das wäre nicht fair!", kontert der Mann, dessen Körperumfang nahezu die Hälfte der Rückbank beansprucht. Weder ihm noch dem hageren Herrn auf der anderen Seite ist es allerdings peinlich, dass Marlène zwischen ihnen wie eingepfercht sitzt und sich kaum frei bewegen kann. "Wir haben Rodolphe gesagt, dass wir hier warten. Warten wir also! – Luigi, Feuer bitte."
Der Hagere beugt sich übereifrig seinem Freund entgegen und drückt sich dabei auffällig an Marlènes Busen. Dass er kein Frauentyp ist, dafür kann er nichts. Seine plumpen Annäherungsversuche hingegen verzeiht zumindest die selbstbewusste Französin nicht.
"Ne me touche pas comme ça, salaud!" Eine Ohrfeige bringt den beleibten Herrn ums Feuer für die Zigarette, die ihm Marlène jetzt auch noch -unabsichtlich wohl- mit einer Geste der Empörung aus der Hand schlägt.
Erstaunt wenden sich die vier Männer Marlène zu.
"Und lasst mich gefälligst in Ruhe! Das Warten ... ça me nerve!"
"Quelle explosivité, wie man bei ihnen sagt, Signora! Das steht ihnen sehr gut!"
"Fordern Sie mich nicht heraus, Signore. Dieses Auto ist eine Zumutung. Warum haben Sie den Mercedes nur Baldwin überlassen? Die haben da zu dritt Platz en masse!"
"Er, er war verrückt! Er hat dem Händler viel zu viel bezahlt", erwidert der Signore - etwas kleinlaut.
"Und viel besser war der Mercedes auch nicht", fügt Ricci hinzu.
"Das liegt am Baujahr, mecht ich meinen. Der Ford hier hat zwanzig Jahr' mehr auf dem Buckel", erklärt der Fahrer.
"Tant pis!" Marlène winkt ab. "Michel, hast Du noch ein Pfefferminzbonbon für mich?" Mit diesen Worten beugt sie sich etwas nach vorne und lächelt dem Beifahrer zu.
"Für Dich immer, Marlène-cherie! "
"Sie Glicklicher!", flüstert der 'docteur' und lacht knatternd vor sich hin. Er rechnet sich schon seit Langem keine Chancen mehr bei den Damen aus und hat wohl gut lachen. Eine Schönheit scheint er übrigens nie gewesen zu sein, auch als Jugendlicher nicht, und das mag an die fünfzig Jahre her sein.
Gerade als Michel, der Beifahrer, seine Rolle Pfefferminzdrops zurückbekommt, wird Ricci auf ein Licht jenseits der Brücke aufmerksam.
"Das müssen sie sein! Cielo! - Zwei Stunden!"
Es ist inzwischen dämmrig geworden und der dichte Nebel tut das Seine dazu, feste Konturen zu verschleiern. Die Insassen des Wagens verfolgen umso gespannter, wie der Lichtschein sich nähert.
Kurz darauf bringt Rodolphe sein Motorrad nahe der Brücke zum Stehen. Baldwins Mercedes trifft etwas später ein.
"Na, haben wir Euch doch noch gefunden!" Mit diesen Worten verlässt Baldwin seinen Wagen und kommt mit ausgebreiteten Armen auf den Ford zu. Michel und Ricci sind unterdessen ausgestiegen. Reichlich verwundert sehen sie einander an.
"Wir waren auf dem richtigen Weg!", erklärt Michel.
"Da ist die Bricke, Herr Baldwin. Mir hoben sie gefunden."
"Einer von uns musste sie ja auch finden, mein lieber Doktor. Es gab ja nur zwei Möglichkeiten, wie?", kontert Baldwin und lacht selbstzufrieden.
Inzwischen ist auch Zeramov herangekommen. Er gibt zu bedenken, dass es bald völlig dunkel sein wird und man vielleicht nicht mehr weiterfahren wird können.
"Kehren wir lieber um?", schlägt er vor.
"Wie weit ist's denn noch?", will Michel wissen.
"Knapp zehn Kilometer, schätze ich."
"Zehn ...?" Zeramov beginnt gekünstelt zu lachen, als Baldwin dies gesagt hat. "Mindestens fünfzehn, Chef!"
Die Streiterei geht von vorne los. Sie eilen zurück zu ihrem Wagen, kramen die Karte hervor und breiten sie auf der Kühlerhaube aus. Baldwin deutet hektisch darauf herum - Zeramov steht kopfschüttelnd daneben.
"No, wann man mecht bedenken, wie lang die Zwei schon zusammen arbeiten, dann mecht man sich schon fragen, warum se mit ihrer Karte nie wer'n einig."
"Da haben Sie völlig recht, Chaim." Michel steckt sich gerade eine Zigarette an. Schmunzelnd sieht er hinüber zu den beiden Streithähnen.
"Was macht es aus, wie weit es noch ist?" Ricci ist zum Mercedes hinüber gegangen. "Ob zehn oder fünfzehn Kilometer ...! Dio, es ist fast dunkel und wir sollten zurück in dieses Dorf fahren."
"Zurückfahren?", kreischt Baldwin auf. "Jetzt, wo wir fast am Ziel sind? Ricci, Sie nerven mich mit ihren unüberlegten Vorschlägen."
"Gott der Gerechte! Hot der wieder a Stimmung heit!" Dr. Chaim Glücklich seufzt laut … demonstrativ laut.
"Wenn wir das Schloss allerdings ebenso lange suchen müssen wie diese Brücke, dann wird's bestimmt später!", bemerkt Zeramov zweiflerisch.
"Das war Rodolphes Schuld", wehrt sich Baldwin sofort. "Von einem einzeln in der Landschaft stehenden Baum aus hätte es rechts abgehen müssen, hat er uns erklärt. Und was brachte das? Eine knappe Stunde Irrwege hat's uns eingebracht."
"Auf dem Hinweg bin ich rechts ab" knurrt der Motorradfahrer - etwas kleinlaut immerhin.
"Dann ist's doch wohl logisch, dass man auf dem Rückweg links dran vorbei muss. Du ... Du Vollidiot!" Baldwin kocht bereits wieder vor Wut.
Der Signore seinerseits, er scheint bei bester Laune zu sein. "Also wagen wir es trotzdem? Ich erwarte mir viel Spaß von diesem Schloss, Signore Baldwin. Was, Ricci, wir haben immer Spaß mit Signore Baldwin gehabt, eh?"
Ricci nickt gleichgültig. "Si ... si!"
Rodolphe hat sich unterdessen abgewandt. Ihn interessiert es kaum, ob man noch weiterfahren würde oder nicht. Selbst für den Fall, dass sie hier im Freien übernachten müssten, ist er gut ausgerüstet. In den großen Gepäcktaschen seines Motorrades hat er genügend Verpflegung und einen guten Schlafsack. Damit lässt sich seiner Meinung nach sogar in dieser ungemütlichen Gegend eine Nacht problemlos überstehen.
Gut für ihn, denn eben entscheidet Baldwin und die anderen fügen sich ohne allzu deutlichen Widerspruch. "Egal, wie weit 's noch ist! Wir schaffen das!"
"Na, dann: masel tow!" Dr. Glücklich nimmt seinen Platz im Ford wieder ein und lässt den Motor an. Kurz darauf fährt Rodolphe als Erster über die Brücke - gefolgt vom Wagen, in dem Cassius gerade seine letzten Anweisungen erhält.
"Und bleib' dicht hinter ihm, Cassius! - Aber fahr' nicht wie der Henker. Ich hab' schon Kopfweh!"
Draußen ist es unterdessen Nacht geworden und die Landschaft verschwimmt endgültig in neblig-milchiger Ungewissheit.
"Hoffentlich ist das Schloss bewirtschaftet." Michel gähnt. Er ist hungrig, müde und wünscht sich das Ende des Tages herbei. Mit diesem Wunsch ist er natürlich nicht alleine.
"Ich weiß nicht, warum Baldwin sich diesmal in so einer gottverlassenen Gegend nach einer authentischen Kulisse für seinen neuen Film umsehen will. Wenn er sich für den Film ein Château eingebildet hat, hätten wir das in Schottland einfacher haben können. Ich kenne da einen Mann, der vermietet sein Château regelmäßig für diesen Zweck", sagt Marlène.
"Sie kennen unseren lieben Baldwin, Signora! Er will sein eigenes Schloss, in dem nur er filmen darf! Und niemand soll seine Kulisse je in einem anderen Film gesehen haben. Er will ein besonderes Erlebnis. Ich finde das sehr aufregend, interessant ... dramatico!" Der Signore ist nicht aus der Ruhe zu bringen; wenigstens er nicht!
...