Henry - Page 10

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von Alexander Zeram

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Särge ins Familiengrab senken ... Mama und Papa werden dastehen und aus leeren Augen vor sich hinstarren ... Leere um sich herum, Leere vor sich ... ohne Geoffrey und Henry.

Herrgott ... so darf das doch nicht enden!

Ich fühle mich zu meiner Überraschung gut. Meine Wade schmerzt nicht, meine Schultern kann ich ein wenig bewegen, mein Kopf ist frei von allem Stechen und Pochen. Jetzt ein Glas Wasser und alles wäre in bester Ordnung. Aber man kann eben nicht alles haben! Ich sehe hier keinen Meter neben mir einen herabgefallenen Ast liegen. Er ist -wie ich mich überzeugen kann- recht fest und lang dazu ... durchaus geeignet, mir als Krücke zu dienen. Vielleicht werde ich so besser vorankommen, jetzt, wo ich mich besser fühle und ein klein wenig Mut geschöpft habe.

Endlich stehe ich ... es hat wohl ein Jahr gedauert, mich auf die Beine zu stemmen. Aber der Ast ist stabil - er hält mich aus. Schade nur, dass ich nicht weiß, wohin ich gehen sollte. Also setze ich mich wieder hin.

Jedenfalls ist es jetzt wieder Abend ... und wenn ich nicht weiß, wann ich eingeschlafen sein mag und wann ich aufgewacht bin - die Sonne steht jetzt tief und ich bemerke, wie sich die Luft langsam abkühlt. Ich will jetzt die Handtasche holen gehen, denn mir ist eingefallen, dass ich ja meine eitrigen Wunden mit dem Eau de Cologne auswaschen konnte. Das wird aller Wahrscheinlichkeit nach sehr stark brennen, aber bevor mich der Eiter von innen her vergiftet, will ich dies auf mich nehmen. Es scheint so, als sei niemand auf der Suche nach mir - und wenn ich nicht elend zugrunde gehen will, dann muss ich mir selbst helfen. Früher habe ich viele Romane und Novellen gelesen - 'Robinson Crusoe' und all diese Sachen. Das war recht spannend: verschollen, verirrt, gefangen, schiffbrüchig, verrückt und so weiter! Der eine hatte es mit Kannibalen aufzunehmen, der nächste mit Piraten, ein anderer mit Hexen und Riesen ... ach, wie ich sie alle bewunderte, die Helden meiner Kindheit. Einmal war ich ganz Odysseus, dann wieder lebte ich mich in Robinson hinein und bangte schließlich mit Gulliver ... oder war es Lederstrumpf? Was tut's? Odysseus, Robinson und Gulliver waren ... schon wieder eine '3'!

Überall taucht das auf. Alle guten Dinge sind drei ... man führt drei Beispiele an ... erst der dritte Punkt entscheidet, wer gewonnen hat. Ungleichheit ... eine ungerade Zahl, die über alles entscheidet - zu des Einen oder des Anderen Gunsten oder Ungunsten. Es macht mich schier wahnsinnig, darüber nachzudenken - und doch kann ich es nicht sein lassen.

Da bin ich also wieder bei meinem Baum - und das bedeutet so viel wie:

Seit mehr als einem Tag bin ich keinen Schritt vorangekommen! Aber ich fühle mich immerhin stärker als gestern oder vorgestern oder wann immer es gewesen sein mag, als ich aufbrach, um den Strauch dort drüben zu erreichen.

Zu meinem Leidwesen habe ich noch nie den Bericht eines Toten gelesen. Das ist bedauerlich und sogar unverständlich. Warum hat man diese Marktlücke noch nicht gestopft! - Aber ja ... es gibt ja solche Berichte aus dem Jenseits ... doch werden diese von der Fachwelt der ernsthaften Wissenschaftler als Scharlatanerei abgetan und heftig beschimpft. Also habe ich sie nie gelesen ... sehr bedauerlich. Vielleicht ist doch was Wahres dran - man kann ja nie wissen. Die Herren Wissenschaftler beurteilen da schließlich Dinge, die sie gar nicht beurteilen können, denn keiner von ihnen war je tot!- Wie können sie sich also anmaßen, diese Berichte als anzuzweifeln und ihnen das abzusprechen, was man als versteckte Wahrheit bezeichnen könnte?

Könnte man das?

Hier sträube ich mich gegen den Tod und weiß der Teufel - ich komme vielleicht ins Schlaraffenland und würde - wüsste ich's genau – noch die Hand ausstrecken, um rascher dorthin zu gelangen! – Vielleicht gibt's aber auch ein Fegefeuer und dann müsste ich meine Hand schleunigst wieder zurückziehen. Verdammt noch mal ... was bringen einem diese Sumpfköpfe in der Schule eigentlich bei?

Einsundeinsistzwei undeinsistdrei undeinsistvier undeins... - was soll ich denn damit? Aus keinem Wasser kann ich auch durch Quadrieren keines machen, und wenn ich ein paar Sinus- und Cosinuskurven in die Rinde dieses Baumstammes einritzen könnte, würde mir das ebenso wenig weiterhelfen. Einen schmackhaften Cheeseburger oder ein paar schlichte Fish-Fries bringe ich auch mit Hilfe von Herrn Pythagoras nicht hervor!

Traurig ... wirklich traurig!

Ich sitze hier am Baum, ausgerüstet mit Tabletten, die mir nichts nützen und einer Krücke, die zu benützen mir zu anstrengend ist. Ich fühle mich elend - und doch ganz gut, wenn man bedenkt, dass ich bereits fast tot sein dürfte.

Kein Hoffnungsschimmer in Sicht - sehr traurig!

Menschen ... wo könnten Menschen sein?

Wie erkennt man, ob Menschen in der Nahe sind?

Ich glaube, dass ich diese Frage vor einiger Zeit schon einmal gestellt habe ... leider ohne eine Antwort zu finden ... selbst auf die Gefahr hin, zwei neue Fragen präsentiert zu bekommen:

1. wie kann ich mich diesen Menschen bemerkbar machen?

2. wie sehe ich überhaupt, ob Menschen irgendwo in einiger Entfernung dahingehen, wenn ich einmal herausgefunden habe, dass es in dieser Gegend Menschen gibt?

Sehr traurig!

Ich bin ermattet, ausgepumpt, kraftlos und ich fiebere. Mein Kopf ist schwer wie eine Bleikugel und mein Körper steif wie ein Brett. Ich möchte mich gerne bewegen, aufstehen und mich auf meinen Stock gestützt davonmachen – irgendwohin! Aber ... ich kann meine Hände nicht vom Erdboden lösen.

Wie angeleimt sind sie dort festgehalten - ich spanne meine Muskeln an, ich versuche die ganze, mir verbliebene Kraft auf diese Aktion zu konzentrieren ... aber es nützt nichts. Ich scheine erlahmt zu sein ... der Eiter vergiftet mich, die Sonne hat mich ausgebrannt, ich atme kaum noch.

Meine Glieder kochen, in mir wütet das Feuer des eitrigen Giftes, Fieberglut und Wahnsinn, Hoffnungslosigkeit und Lebensgier.

Nein ... n e i n ... ich will nicht sterben!

Ich will nicht so sterben!

In einem Bett, nach vollbrachten Aufgaben und Taten, nach einem erfüllten Leben ... das ja.

Jeder muss irgendwann einmal abdanken. Das ist mir ganz klar und ich habe nichts dagegen einzuwenden. Aber auf diese jämmerliche Art und Weise?

Nein!

Nein, das

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