Mehr als zwanzig Jahre sind inzwischen vergangen, doch ich werde diesen Vorfall, der mir im Gedächtnis geblieben ist, als sei es gestern gewesen, nicht vergessen. Damals lebte mein Vater in einem kleinen Appartement, das zu einem Altersheim gehörte, nur einige Busstationen von unserer Wohnung entfernt.
Es ist ein kühler Spätherbstabend. Ich habe meinen Vater besucht und mache mich nun gegen 22 Uhr auf den Weg zur Bushaltestelle, die in der Nähe des Altersheims an einer abgelegenen Nebenstraße liegt. Die feuchte Luft läßt mich frösteln; im nebligen Mondlicht erkenne ich eine Gestalt, die, den Kopf gesenkt, auf der Wartebank an der Haltestelle sitzt.
„Guten Abend“, sage ich, eher beiläufig und der Höflichkeit genügend. Tatsächlich habe ich nicht die Absicht, ein Gespräch zu beginnen.
„Halt die Fresse, sonst...“
„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht veralbern.“ Innerlich erstarre ich. Du darfst ihn keinesfalls reizen, fährt es mir durch den Kopf, mach‘ dich unsichtbar. Ich trete an den Rand der Straße und halte Ausschau nach dem Bus, der natürlich auf sich warten läßt. Minutenlang rühre ich mich nicht vom Fleck. Der Bus kommt nicht. Betont locker wende ich mich schließlich dem Teil der Haltestelle zu, wo der Fahrplan hängt und studiere ihn, ohne etwas zu erkennen. Kein weiterer Fahrgast findet sich ein, die Gegend scheint verlassen.
„Tut mir leid“
„Bitte, bitte“, sage ich und lasse den Fahrplan nicht aus den Augen.
„Das ist kein guter Abend, das ist ein verdammter Scheißabend...“
Jetzt schaue ich ihn an. Er ist wohl höchstens achtzehn, neunzehn Jahre alt, ein offenes Jungengesicht.
„Ich wollte Sie wirklich nicht necken.“
„Wie alt sind Sie?“
„Achtundfünfzig.“
„Ich hätt‘ Sie älter geschätzt... Der Bart. Ich hätte Sie beinah zusammengeschlagen. Aber so einen alten Mann... Dann wär‘ ich endgültig im Knast gelandet, reicht so schon...“
„Bitte“, sage ich und begreife langsam die veränderte Situation, „vergessen wir das.“
Er schaut mich an. Reden, denke ich, er will reden. Er braucht Hilfe, nicht ich.
„Das war ein Scheißtag, heute. Alle hacken sie auf mir rum. Ich bin das letzte Arschloch. Der Vormann...“
„Worum geht es?“
„Ich bin auf’m Bau, Bauhilfsarbeiter. Ich mach‘ den letzten Dreck weg, wenn die andern sich ins Wochenende verabschieden. Und wenn einer Scheiße baut, dann bin ich’s gewesen. Letzte Woche hab‘ ich einen zusammengeschlagen – wahrscheinlich bin ich den Job los. Morgen ist Prozeß...“
„Wenn ich Ihnen helfen kann? Ich meine, ich bin kein Rechtsanwalt, aber ich habe etwas Erfahrung.“
„Mir kann keiner helfen. Wenn ich wütend werde, dann...“
„Versuchen Sie, ruhiger zu werden. Es ist eine Sauerei, was die auf der Baustelle mit Ihnen veranstalten. Aber es hat keinen Sinn, einfach drauf zu schlagen. Sie müssen sich zusammenreißen, zählen Sie bis zwanzig, gehen Sie weg, bis Sie...“ Ich bemerke, daß er lächelt.
„Wenn das so einfach wäre!“
In der Ferne tauchen Scheinwerfer auf, der Linienbus kommt. Ich finde eine Visitenkarte in der Tasche.
„Rufen Sie mich an, ich möchte Ihnen helfen, wenn ich kann.“
Wir reichen uns die Hände, dann steigen wir in den Bus. Als ich mich nach zwei Stationen zum Aussteigen bereit mache, sitzt er noch an der Tür.
„Ich halte Ihnen die Daumen, für morgen. Und – rufen Sie mich an, wenn Sie möchten...“
Er nickt.
Ich habe ihn nicht wiedergesehen.