Beyond the veil: Das Auge des Milikles - Page 10

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gefahren?“
Der lydonische Kriegsherr hatte soeben ebenfalls das Allerheiligste betreten, da offensichtlich keine Gefahr für sein wertvolles Offiziersleben bestand.
„Es funktioniert! Alles ist wahr! Das Orakel hat mir soeben verkündet, dass ich in der Mitte meines Lebens sterben werde!“
Bevor wir unsere Geschichte fortsetzen, bedarf es an dieser Stelle einiger Aufklärung. Unser Orakel bezeichnete -was dieser durchaus nicht beachtete- Alkastos als Abkömmling des Enki. Darin liegt der Schlüssel für einige der vorhergehenden Begebenheiten. Vor Urzeiten, die älter sind als die Legenden, durchwanderten mehrdimensionale Wesen die Welten, die sich gelegentlich mit den sterblichen Einwohnern vermischten und im Gegensatz zu den späten erfundenen Göttern kein Produkt der Imagination waren. In späteren Zeiten bezeichnete man jene Entitäten als Dämonen und erinnerte sich vernehmlich an deren negative Aspekte. Natürlich standen diese Wesenheiten den Sterblichen viel differenzierter gegenüber. So gingen beispielsweise dem Erzeuger von Milikles die Menschen ziemlich am Allerwertesten vorbei und er spielte mit ihnen eine kurze Zeit, wie sich ein gelangweiltes Kind mit Ameisen vergnügt. Enki gehörte zu einer wohlwollenderen Sorte und fand Gefallen daran, das Schicksal einzelner Sterblicher positiv zu beeinflussen und ihre Frauen zu beglücken. So trug Alkastos -freilich ohne das zu ahnen und extrem verdünnt- Dämonenblut in sich. Was er als ‚Intuition‘ bezeichnete, waren in Wahrheit präkognitive Fähigkeiten oder einfacher ausgedrückt: Magie. Auch starb das schlangenköpfige Ungeheuer nicht an der Wut des Harmodios und der Gunst des Kriegsgottes, sondern am Blut des Alkastos mit dem die Lanzenspitze benetzt war, denn nichts tötet ein magisches Wesen effektiver als der Lebenssaft eines Dämons – in diesem Fall auch als Spurenelement.
„Tatsächlich, wie soll das funktionieren?“
Begierig funkelte der lydonische Kriegsherr den mitteilsamen Danaer an.
„Legt einfach die Hand auf den Stein und stellt Eure Frage!“
„Wie wird mein Schicksal sein?“
„Du wirst das Geschick des Alkastos stehlen und als reicher Mann sterben!“
Hocherfreut entfernte Pharnabessos die offizierliche Hand, an der so viel Blut klebte, von dem Rubin.
„Na, was hat es gesagt?“
„Das geht Euch nun wirklich nichts an, Alkastos! Gel, ýalta doňuzlar! Gymmat bahaly daşdan tutuň.“
Die beiden Kriegsknechte beeilten sich, den Rubin vom Dreifuß zu nehmen.
„Schade, der ist ja nicht einmal durch eine Falle gesichert!“
Bedauernd schüttelte der noble, lydonische Menschenfreund sein edles Haupt.
„Also zurück zum Schiff! Mart aýyna çykyň, biderek ogullar.“

*

Es war bereits Nachmittag, als die zusammengeschrumpfte Gruppe den Archeron erreichten. Der anfängliche Jubel der Zurückgebliebenen wich schnell bedrücktem Schweigen, als realisiert wurde, dass nicht mehr als die acht Rückkehrer überlebt hatten. Während Pharnabessos eine Rede zum Besten gab, wie er mit großem Heldenmut das ‚Auge des Milikles‘ eroberte, informierte Alkastos die verbliebenen drei Danaer über die jüngsten Ereignisse. Schließlich befahl der lydonische Kommandant zur allgemeinen Überraschung, das Schiff seeklar zu machen.
„Hauptmann, wir können auch morgen in See stechen, auf die paar Stunden kommt es nun auch nicht mehr an. Zumindest sollten wir mit ausreichend vielen Männern zurückgehen und die Toten anständig bestatten!“
„Für solch sentimentalen Unsinn habe ich keine Zeit. Jedoch könnt Ihr, Alkastos, gerne diese Aufgabe übernehmen, denn Ihr werdet wohl längere Zeit auf diesem gastlichen Eiland verbringen!“
„Ihr scherzt, Pharnabessos!“
Den Nauarchen beschlich das angesichts der fünf Lydonier, die ihn und die restlichen Danaer zwischenzeitlich umringten, ein sehr ungutes Gefühl.
„Keineswegs! Für die Rückfahrt benötige ich Eure Dienste nicht mehr, da ich mich zwischenzeitlich mit Eurem Steuermann und seinen Leuten einigte. Wie ihr schon selber erwähnt habt, dürfte die Rückfahrt nicht so schwierig sein und da reicht ein tüchtiger Seemann aus. Normalerweise ließe ich Dich töten, aber da Du mein Leben gerettet hast, schenke ich Dir das deinige. Niemand soll Pharnabessos undankbar nennen!“
Zunächst entsetzt und dann mit wachsender Wut sah der Kapitän seine treulosen Gefährten an.
„Du hast nicht hören wollen, Nauarch. Seine Gnaden gibt mir 30% und den Jungs 20% des Schatzes. Wir haben sein Ehrenwort als Offizier und Gentleman! Das hat letztendlich auch Nikias überzeugt. Aber wir haben jetzt alle Hände voll zu tun, kommt Leute!“
Bevor Alkastos Ephialtes antworten konnte, hatte sich dieser bereits mit den anderen Verrätern entfernt.
„Des Glückes Laune! Möge es Euch nicht verlassen, Lydonier, wenn Ihr zu Eurem geisteskranken König zurückkehrt!“
Mit gespieltem Bedauern und einem sardonischen Grinsen in seinem Gesicht schüttelte der gerissene Edelmann sein Haupt.
„Seine Majestät mag in gewissen Dingen launisch sein, aber unser herrlicher Führer hält stets sein Wort. Ihr jedoch, Danaer, werdet auf dieser kargen Insel verschmachten. Es wurde Euch ja auch schließlich prophezeit, dass Ihr in der Mitte Eures Lebens sterbt und das Orakel lügt bekanntlich nicht. So gehabt Euch wohl und genießt die letzten Tage Eures irdischen Daseins.“
Hilflos musste Alkastos mitansehen, wie die restliche Mannschaft das Schiff flott machte und wenig später in See stach. Während der unglückliche Kapitän den am Horizont verschwindenden Archeron hinterher sah, überkam ihn mit einem Male die Gewissheit, dass er hier nicht sterben würde.

*

Wie erwartet verlief die Rückreise des Archeron komplikationslos, zumal auch Ephialtes an rein seemännischem Geschick dem aus Habgier verratenen Gefährten in keiner Weise nachstand. Durch die von der Insel ausgehenden Strömung sicher an die pontische Küste geleitet, fuhr das Schiff Richtung Westen daran entlang. Die Säulen des Memnon und den Daenispont passierte man, trotz der arg gelichteten Rudermannschaft, sicher mittig, von der starken Strömung getragen. Die Amphipoliten unternahmen nicht einmal den Versuch, den Eindringling abzufangen und sahen auch zum Glück der Archeronauten von einer Verfolgung ab.
So näherten sich unsere zweifelhaften Helden der lydonischen Hauptstadt bis auf Sichtweite.
Fröhlich pfeifend, näherte sich der verräterische Steuermann dem lydonischen Kriegsherrn, der hintergründig lächelnd am Bug stand.
„Ein schöner Anblick, da wird mir Eure Gnaden gewiss zustimmen.“
„Wie wahr! Übrigens, gute Arbeit. Itleri öldüriň!“
Die Schreie der beiden danaeischen Rudergänger ließen Ephialtes herumfahren. Entsetzt musste der Steuermann beobachten, wie Archelaos und Nikias von den Lydoniern ermordet wurden. Bevor er sich jedoch wieder dem lydonischen Offizier und Gentleman zuwenden konnte, legte sich dessen Arm um seinen Hals und ein reich verzierter Dolch drang in den Rücken des verratenen Verräters ein.
„Ihr habt es versprochen…“
Famous last words, bevor die Schatten den Steuermann holten.
„Ich habe gelogen! Aber der Hohepriester und Oberpfaffe der Barmherzigkeit wird mich gegen einige Pfund Gold sicherlich von meinen Sünden reinigen.“
Geschickt zog Pharnabessos seinen Dolch heraus und ließ die Leiche des Ephialtes zu Boden gleiten. Mit herrischer Stimme wandte er sich an seine getreuen Knechte.
„Werft die Leichen über Bord, ihr Schweine. Dann zwei Mann an die Seitenruder und geschwind in den Hafen. Reichtum, Ruhm und Ehre erwarten mich!“

*

Kroiphem betrachete den temporär verlorenen Chef der Leibwache und den mitgebrachten Edelstein, den man zwischenzeitlich auf einem goldenen Dreifuß platziert hatte, voller Wohlwollen. Nachdem der Archeron angelegt hatte, war Pharnabessos in Begleitung einiger Männer und des kostbar großen Kleinods directamente in den Palast geeilt und wurde auch prompt zum König vorgelassen.
„Ausgezeichnet, mein getreuer Pharnabessos. Aber sagt mir, hattet ihr eine angenehme Reise?“
Die Aussage des irren Königs hört sich für unbedarfte Ohren wohl ziemlich typisch an, aber beinhaltete einen Geheimcode. In Wahrheit ging es darum, ob der Edelstein wirklich über die legendären, magischen Fähigkeiten verfügte. Der gestörte Monarch und sein in hündischer Treue ergebener Oberwachtmeister waren vor der Reise übereingekommen, dass letzterer das Orakel ausprobieren möge, damit auf den huldreichen Monarchen nicht etwa eine verborgene Gefahr zukäme.
„Ja, wirklich sehr angenehm! Leider sind jedoch die Danaer dabei alle draufgegangen!“
„Welch ein Jammer! Aber, Pharnabessos, für diesen Dienst stehst Du in meiner besonderen Gunst. Ich habe übrigens schon Deinen Nachfolger einarbeiten lassen, da Du nun für anderes vorgesehen bist. Darf ich Dir Arsaces vorstellen?“
Ein kleiner, aber drahtiger Mann und unbeweglicher Miene verneigte sich tief in Richtung des kranken Führers Günstling. Hochmütig lächelnd nickte der seinem Nachfolger leicht zu.
„Nun soll Dir Deine Belohnung zuteilwerden, mein hochgeschätzter Knecht. Ihr Hofschranzen, befördert mich und den Edelstein samt Dreifuß in die Schatzkammer Nr. 20! Pharnabessos, Arsaces und 6 Wachen kommen mit!“
Einige Zeit später befanden sich der Monarch samt Gefolge in dem schon bekannten Hort.
„Alle raus, mit Ausnahme von Pharnabessos und Arsaces. Die Träger mögen für den royalen Rücktransport bereitstehen. Wachen, ich möchte nicht gestört werden!“
Eilig beeilten sich die braven Untertanen den Anordnungen ihres huldvollen Herrschers nachzukommen.
„Also Pharnabessos, mein besonderer Favorit, wie funktioniert das Orakel denn. Na, schau mich nicht so entsetzt an, Arsaces ist mit mir durch Blutsbande verbunden und absolut vertrauenswürdig!“
„Majestät müssen den Edelstein berühren und dann eine Frage stellen. Tatsächlich wird auch nicht mehr als eine beantwortet, ich habe das schon ausprobiert!“
„Ohne meinen Befehl? Du scheinst ja sehr ehrgeizig zu sein, mein Goldstückchen!“
Mit der Hilfe des Arsaces richtete Kroiphem sich von seinem goldenen Thron ächzend auf und berührte den Orakelstein.
„Was passiert, wenn ich Daros von Pardien angreife?“
„Du wirst ein großes Reich zerstören und als uralter Mann sterben. Man wird sich Deiner noch nach Jahrhunderten erinnern!“
„Das ist großartig! Ich hätte nicht gedacht, dass das wirklich funktioniert. Der Stein und Pharnabessos bleiben zunächst hier. Du darfst schon einmal Deine Schätze bewundern, mein Lieber. Arsaces hole die Träger und Wachen, wir wollen gehen!“
Hocherfreut und voller Dankbarkeit verbeugte sich der getreue Pharnabessos, während Arsaces nur seltsam lächelte und sich beeilte den Befehl seines Herrn auszuführen. Einige Minuten später befanden sich alle außer dem reich belohnten Günstling, der mit Ausrufen der Freude in seinen Schätzen wühlte, an dem ehernen Portal der Schatzkammer.
„Wachen, schließt das Tor und versiegelt es für immer! Dem Narren dort drinnen gegenüber will ich mein Wort halten: Niemand soll ihn verletzen oder töten, sondern er mag mit seinen Schätzen verschmachten. Er kann ja sein Gold essen, wenn es ihm danach gelüstet!“
Natürlich konnte der betrogene Betrüger dem freundlichen Rat seines Herren nicht nachkommen, da, nachdem die Wachen ihr schreckliches Werk vollendeten, er qualvoll erstickte und nicht dem Durst oder Hunger erlag. Allerdings starb Pharnabessos unzweifelhaft als reicher Mann.

*

Unsere Geschichte ist nun fast zu Ende, aber schauen wir, was weiter geschah.
Kroiphem griff Daros tatsächlich an und zerstörte ein großes Reich, nämlich sein eigenes. Nicht unwesentlich trug Arsaces dazu bei, der dem pardischen Herrscher angesichts des Schicksals seines Vorgängers wichtige Informationen zuspielte und dafür mit einem entlegenen Fürstentum belehnt wurde. Ursprünglich plante Daros den irren König für seine Untaten hinrichten zu lassen, schenkte ihm aber, nachdem ihm die Geschichte jenes berühmten Dialoges zwischen Solohenes und Kroiphem zu Ohren kam, das Leben und machte ihn zu seinem Leibsklaven, sozusagen als lebendes Beispiel für die Unwägbarkeiten des Schicksals. Es hieß, sooft Daros auf ein Ross oder auf seinen Thron stieg benutzte er ein königliches Genick oder royalen Bauch als Trittleiter. Kroiphem hielt das einige Jahre aus, starb aber dann durch die Demütigungen und Entbehrungen sozusagen als uralter Mann. Daros ließ den toten Körper ausstopfen und ihn im Tempel der Gerechtigkeit als Mahnmal gegen übermütigen Hochmut ausstellen. Dort konnten Besucher noch Jahrhunderte später den Kadaver des Kroiphem bewundern.
Alkastos wiederum starb tatsächlich nicht auf der Insel, sondern wurde von einem hoffnungslos verirrten Schiff aus Amphipolis gerettet. Da er seine Retter sicher nach Hause brachte, übergaben die ihn nicht ihren Behörden, sondern ließen ihn laufen. Alkastos lebte noch viele Jahre und starb beim Sex mit seiner wunderschönen, jungen Gemahlin während des Orgasmus im Alter von 70 Jahren wie prophezeit in der Mitte seines Lebens auf dem Höhepunkt seiner Kraft.
Was nun das ‚Auge des Milikles‘ angeht, so ließ Daros, der ein kluger und weiser Mann war, es an einer tiefen Stelle im Meer versenken. Dort wartet es nun geduldig auf seine Zeit, denn solange es Menschen gibt, existieren auch machtgierige Narren.

Sollte eigentlich ne Kurzgeschichte werden, aber Inspiration und die Götter haben anderes beschlossen.
Allen einen schönen Pfingstmontag und bleibt gesund!
LG
JU

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