Irreparabel

Bild zeigt Brigitta Wullenweber
von Brigitta Wullenweber

ach wie der ast weint
als ihm ein blatt verweht.
 
ach wie der baum seufzt
als ein blatt abfällt
und ein ast abbricht.
 
ach wie der wald trauert
als ein blatt geht,
ein ast zerbricht
und ein baum einknickt.
 
aus dem gestern
klingt das damals
schwer und laut.
 
aus dem morgen
klingt das später
leicht und leis'.
 
heute
ist der wald still
im wandel
wie immer.
 
 
Du sagst „Gestern ist  ein neuer Tag“, rollst die Augäpfel gen Himmel und meinst es ernst. 
Immer wieder von neuem. Murmelnd, schreiend und tonlos. Dein Blick erfasst mich nicht mehr. Nie mehr, fürchte ich. Und doch packst du mich von Zeit zu Zeit, und deine Hände fordern auch meinen Körper gewaltsam in dieses Gestern, das aus dir spricht.
„Hör auf damit!“ möchte ich sagen, bleibe doch stumm, folge deinem Blick und finde weder das bekannte Du noch dieses Gestern.
Der Psychologe sagt, das Trauma ist irreparabel. Er glaubt zu wissen, dass ein „gestriges“ Erlebnis nach Erneuerung ruft. Er dichtet den Wunsch nach Veränderung der Vergangenheit in dein Leben.  Auch seine Augäpfel spielen ihr eigenes Spiel. Als ich frage „Wie wäre das möglich?“ wendet er sich auch körperlich ab und du schaust wie immer nach oben. Oder ist oben innen?
Manchmal sagst du „Schau, wie schön! Ein Spielzeug! Ganz bunt! Weg isses!“ und wieder weiß ich nicht, was du meinst.
Der Arzt sagt mit Blick auf seine Untersuchungsergebnisse, die er für deine hält, „Alzheimer. Eindeutig. Wir forschen noch.“ Woran sagt er nicht. Aber die Prozentzahl ist eindeutig. Du liegst im Trend. Die Tabletten nimmst du nicht. Das verstehe ich.
Du zeigst mir eine Mappe. Deine Gedichte von damals. Lange ist das her. Ich finde den passenden Text und lese ihn uns  vor.
 
Diagnose
 
um zu vergessen, dass ihr mich vergesst,
vergesse ich euer vergessen.
 
keine kontrolle mehr. auch nicht über euch.
 
um zu vergessen, dass ich mich vergaß,
vergesse ich mein vergessen.
 
aus der zeit gefallen.
im raum angekommen.
 
um zu vergessen, dass ich vergesse,
vergesse ich das vergessen.
 
immer noch kämpfe ich.
mit aller gewalt.
 
auch gegen die schublade,
in der ihr mich gerne hättet.
 
Ansprüche ohne bedeutung.
 
oder kontrolliert ihr jetzt mich?
 
in mir ist ruhe
endlich.
 
um zu vergessen, dass ich vergesse,
vergesse ich das vergessen.
 
entschuldigt.
 
 
Für einen Moment lächelst du. Und auch ich bin glücklich.
„Gestern war der neue Tag“ sagst du mit Nachdruck und ich beginne zu verstehen.  Du hast die Richtung gewechselt. Vielleicht.
Neulich las ich, dass es nur die Geschichten sind, die wir uns über uns selbst erzählen, die uns glauben machen, wir seien wer. Nur das sei die Ursache von Leid. Du leidest nicht. Das sehe ich.
Kann sein, du hast keine Richtung mehr.
Ich erzähle dem Guru von dir. Er lief mir eben über den Weg  und sah mich an. Er war der erste, der das tat. Er ist der erste, der das tut. Eine Wohltat.
„Bring ihn zu mir“ schlägt er vor. „Falls er möchte“.
Du möchtest und wirst ganz still. Ich erkenne, alles ist gut. Dir fehlt nichts. „Seht was HIER ist“ fordert der Guru von dir und auch von mir. Du siehst es mit Gewissheit. „Existiert ein Gestern? Existiert ein Morgen?“ Du schüttelst den Kopf. Ich erlaube eine Ahnung. „Was ist JETZT?“ fragt er und schon wieder ist alles neu. „Auch gestern war ein neuer Tag“. Natürlich.
Wieder zu Hause finde ich in deiner Mappe dieses Gedicht und du lächelst.
 
Als die Zeit in mein Leben trat,
trat ich beiseite und vergaß mich.
 
Als mein Leben in die Zeit trat,
vergaß sie sich und mich.
 
Kein gestern,
kein morgen,
nur jetzt.
 
Als ich abtrat,
nannten sie das Tod
und ich lebte.

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