Der Ball

Bild zeigt Dieter J Baumgart
von Dieter J Baumgart

                                                                          Vorwort
Dies ist eine wahre Geschichte. Sie beginnt im Jahre 1942 auf einem Berliner Hinterhof, und sie endet auf einem im Aufbau befindlichen Spielplatz am Rande von Köln. Beide Male war es ein Ball, rot mit weißen Punkten. Der erste Ball erfreute den Autor als Geschenk zum achten Geburtstag.
Den Zweiten entdeckte er Anfang der 70er Jahre auf einer Müllkippe bei der Suche nach Brettern und Balken für den Bau eines Spielparks, den er auf einem 10 000 qm großen städtischen Gelände gemeinsam mit Freunden und Nachbarn nach einer eigenen Konzeption realisierte.
Den Spielpark gibt es immer noch. Besucher finden ihn unter den folgenden Koordinaten: 50°53'17.59''N  und 7°04'55.49''O

     Es war einmal ein Ball. Er war rot, mit vielen weißen Punkten und lag eines Tages auf einem Geburtstagstisch, zusammen mit anderen Spielsachen, einem Pullover und einer warmen, pelzgefütterten Mütze.
     Verwundert sah sich der Ball in der neuen Umgebung alles an. Es war ja erst ein paar Tage her, daß er in einer großen Maschine geboren wurde. Dann kam er mit vielen anderen Bällen in ein Geschäft. Und von dort in diese Wohnung.
     Draußen war es kalt gewesen; man hatte ihn warm eingepackt, in hübsches buntes Papier mit einer blauen Schleife. In der Wohnung war alles sehr neu und aufregend für ihn, und so sprang er vergnügt vom Tisch auf den Boden, durch das Wohnzimmer in die Diele und von da in die Küche und wieder zurück.
     Es war zwar ein bißchen eng und einmal fiel auch eine Vase auf den Boden – er wollte gerade mit elegantem Sprung über den kleinen Tisch am Fenster hüpfen –, aber es machte ihm doch viel Spaß.
     Besonders lustig fand er, daß ein kleiner Junge immer hinter ihm her lief und ihn überall, unter dem Schrank oder hinter der Gardine wiederfand.
     Auf diese Weise hatten die Beiden schon fast eine Stunde miteinander gespielt, als es plötzlich an der Wohnungstür läutete. Jemand ging hin, und der Ball hörte erregte Worte. Irgendwer war sehr wütend und tönte was von Ruhe und nicht allein im Haus. Und von irgendwelchen Schritten, die unternommen werden sollten, war auch die Rede.
     Von da ab war es mit dem Versteckspielen vorbei. Der kleine Junge war traurig und der Ball auch. Einsam lag er in einer Ecke. Ganz vorsichtig rollte er schon einmal durch das Zimmer, aber wenn er auch nur einen kleinen Sprung machte, kam schon ein ärgerlicher Ruf aus der Küche oder aus dem Wohnzimmer oder aus beiden Räumen gleichzeitig. Und schon war das Spiel aus.
     So ging es den ganzen Winter über, bis endlich der Frühling kam. Der Ball merkte es daran, daß die Zweige einer großen Kastanie grüne Spitzen zeigten. Von seinem Platz auf dem Schlafzimmerschrank konnte er das gut beobachten. Offenbar schien nun auch öfter die Sonne, denn die dunkelgraue Wand hinter dem Kastanienbaum war manchmal hellgrau.
     Und eines Tages war es dann so weit. Er durfte wieder vom Schlafzimmerschrank; der kleine Junge hatte ihn glücklich im Arm, und beide sprangen vergnügt viele Treppen hinunter nach draußen.
     Nun sah der Ball den Kastanienbaum zum erstenmal in seiner ganzen Größe. Seine Äste waren so breit, daß sie den blauen Himmel oben fast ganz ausfüllten. Um den Baum herum erhoben sich vier große, graue Wände mit Fenstern drin, und als der Ball seine ersten Sprünge auf dem gepflasterten Hof machte, da hallte es ganz unheimlich.
     Der kleine Junge hatte zwei Freunde gefunden  und der Ball hatte seinen Spaß daran, alle drei in Atem zu halten. Lustig sprang er an den grauen Wänden hoch, und wenn er in ein Sonnenfleckchen kam, leuchteten seine weißen Punkte.
     Doch auch diese Freude sollte nicht von langer Dauer sein. Denn schon nach kurzer Zeit tönte dieselbe Stimme, die der Ball schon einmal an der Wohnungstür gehört hatte, aus einem Fenster: „Ruhe! Verdammte Gören. Hof ist kein Spielplatz!“
     Andere Fenster gingen auf, Köpfe schauten heraus und es war ein Getöse, wohl zwanzig Mal lauter als zuvor die drei Kinder mit dem Ball. Als dann auch noch jemand, wütend mit den Händen fuchtelnd, auf dem Hof erschien, flüchteten die Kinder hinter dem Ball her, durch das Haustor auf die Straße. Der Ball rollte über den Gehweg auf die Fahrbahn und verschwand unter einer Autoschlange.
     „Nu‘ ist er weg!“ meinte der eine Junge.
     „Schade“, sagte der andere, „es war ein schöner Ball. Und noch ganz neu. Was sagst du denn nun deinen Eltern?“
     „Och“, meinte der, dem der Ball gehörte, „die sind bestimmt froh. Ich durfte ja doch nirgends mit ihm spielen...“
     Der Ball aber lag bereits im Rinnstein. Der Wind vorbeifahrender Autos trieb ihn langsam weiter bis zu einem Müllhaufen am Rande der Straße. Die weißen Punkte waren kaum noch zu sehen, als er schließlich am nächsten Morgen mitsamt dem übrigen Abfall eingesammelt wurde und auf eine Müllkippe kam. Da lag er nun zwischen alten Eimern, Blechdosen und Schutt und hatte die Hoffnung bald aufgegeben, daß er jemals wieder durch die Gegend springen dürfte.
     Der Frühling verging, fast täglich kamen Lastwagen mit Abfällen, und vom Ball war nicht mehr viel zu sehen, weil ihn ein dickes Brett fast ganz verdeckte. Damit wäre die Geschichte eigentlich zu Ende , wenn es nicht den Zufall gäbe.

     Der hatt sich das etwas anders vorgestellt. Und so kam an einem besonders heißen Tag eine Gruppe von Männern. Die brachten ausnahmsweise keinen Müll. Ganz im Gegenteil: Sie durchwühlten den Schutt und sammelten Bretter und Balken auf. Und bei dieser Gelegenheit fanden sie auch den Ball.
     Der wunderte sich sehr, als er zwischen Brettern und Balken auf einem Auto landete, das ihn schließlich zu einer großen Wiese mit vielen Kindern brachte.
     Aus den Brettern und Balken bauten die Männer ein Haus mit Fenstern, aus denen niemand „Verdammte Gören!“ brüllen würde. Und kaum war der Ball vom Auto herunter, da sprang er auch schon mit den Kindern um die Wette durch die Gegend.

     Nur manchmal wurde der Ball etwas traurig. Dann dachte er an die drei Kinder im Hof mit den grauen Wänden und dem Kastanienbaum, dessen Äste fast den ganzen Himmel ausfüllten.

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