104. Schritt
Es ist Nacht und die Stille liegt über allen Dingen. Die Steinkreise in meinem Garten halten etwas gefangen: meine Seele! Ich blicke hinauf ins Dunkel und sehe einen Stern. Aber der Stern beginnt zu fliehen. Er flieht auf mich zu und er blinkt nicht.
Aus der anderen Richtung nähert sich ein Flugzeug – der Stern blinkt immer noch nicht. Die Leute im Flugzeug sehen keinen Stern – ich sehe sie! Ich sehe sie von meinem Stern aus und ich frage mich ob sie wissen was ich weiß.
Was ich weiß glaube ich zu wissen, aber da ist nichts! Kein Wissen, kein Stern, nur das Flugzeug und ich. In mir ist der Stern. Der Stern ist wie eine Erinnerung an 1000 Leben, weil mir vor 1000 Jahren einmal jemand gesagt hat: „Alles ist sinnlos!“
Ich glaubte nicht daran. Ich glaubte nur an die Sterne, die auf mich zu flohen wenn ich sie ansah. Mit der Zeit wurden es immer mehr. So oft ich ins Dunkel hinaufblickte, so oft näherte sich eines dieser Lichter, die auf mich zu flohen, egal in welche Richtung sie sich auch bewegten.
Sie zogen Kreise, sie kamen von allen Seiten und ich stand in der Mitte und beschwor meine Zukunft – DIE Zukunft! „Alles ist sinnlos“ erschein mir so sinnlos, wie alles was ich tat. Doch ich hatte ja meine Sterne, die niemand sehen konnte – auch von einem vorbei fliegenden Flugzeug aus nicht.
Nur wenn jemand direkt neben mir stand und ich direkt auf den Stern deutete, der auf mich zu floh, egal in welche Richtung er flog, kreiste oder erlosch, wieder auftauchte und wieder erlosch, dann sah er ihn auch.
Manchmal fragte mich einer der „Sehenden“ was das wohl sei und ich antwortete ihm: „Was denkst du denn?“ Dann war er still, still wie die Nacht. Manche sagten aber auch, daß sie nicht sähen was sie sahen, oder nicht sehen wollten worauf ich hin deutete.
Dann lachte ich und dachte bei mir: „Alles ist sinnlos!“ Aber ich glaubte es immer noch nicht. Wenn alles sinnlos ist was passiert, warum passiert es dann? Wenn niemand merkt was passiert, warum passiert es dann nicht? Warum passiert überhaupt etwas, wenn nur das passieren darf, was man zu bemerken bereit ist?
Hat also das Sinnlose den Sinn sinnlos zu sein, weil nur in der Sinnlosigkeit Sinn liegt? Das ist Unsinn! Es passiert was passiert und wer darin einen Sinn sehen möchte, dem sei dies gestattet.
Ich dagegen gehe hinaus in die Dunkelheit und beobachte die Stille, die über allen Dingen liegt. Und es ist Nacht, die letzte Nacht der letzten Welt – heute, morgen, vor 1000 Jahren und wenn ein Augenblick 1000 Jahre währte, dann würde es sie in 1000 Jahren immer noch geben.
Andernfalls blicke ich auf einen Stern, denn die Steinkreise im Garten halten meine Seele gefangen, so wahr, wie sich der Stern den ich anblicke in Bewegung setzt und auf mich zu flieht.
Er steigt in die Unendlichkeit auf, erlischt beinahe, bevor er an ungeheurer Leuchtkraft gewinnt um mir zu beweisen wie magnetisch er ist. Er taucht aus meiner Welt, die nicht meine Welt ist, in seine Welt, die auch meine ist, und plötzlich sind wir verschwunden.
Ich zwischen den Steinkreisen und er auf dem Weg zu einer Sonne, unter der sich keine Flugzeuge bewegen, nur Seelen, die mich sehen oder nicht sehen – je nach Helligkeitsgrad, ob ich nun blinke oder nicht.
„Alles ist sinnlos!“, höre ich die letzten 1000 Jahre singen. Ihr Gesang ist hypnotisch. Er kann überall gehört werden, denn er zieht sich wie eine gewaltige Explosion von Ewigkeit zu Ewigkeit, über die Stern-Bilder des Seins, bis hin zu den Sehenden und denen die nichts sehen, weil sie befallen sind, von der Bewältigung eines Wahnsinns, der unerkannt seine Kreise zieht.
©Alf Glocker