119. Schritt
Das große, einzig wahre und wirkliche Geheimnis des Lebens, des Daseins, oder wie man es auch nennen möchte, lautet: „Wie kann ich es anstellen, daß ich nichts verpasse?“ Es ist deshalb eine Geheimnis, weil in diesem Satz, der eigentlich zunächst ein Frage ist, im wahrsten Sinne des Wortes, unglaublich viele Möglichkeiten stecken.
Wer möchte schon, unter anderem eine real existierende Orgie verpassen, oder den real existierenden Sozialismus? Wer möchte nicht in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern dabei gewesen sein, oder im 1. oder 2. Weltkrieg? Wer möchte nicht miterlebt haben wie die großen Seuchen Kontinente verwüsteten, oder Erdbeben Städte zerstört haben?!
Wer würde nicht gerne noch einmal die Geburt seines 1. oder 25. Kindes miterleben? Den Olympiasieg von Anno dubag? Oder vielleicht gar den Einmarsch der heiligen Krieger in das gelobte Land?
Wer möchte nicht Cäsar gewesen sein, Michelangelo Buonarroti, Alexander der Winzige, Karl der Haarige, oder die Putzfrau von Tuth-anch-Amun? Es gibt abermilliarden Rollen, die zu vergeben waren, sind und womöglich noch sein werden – obwohl auch daran Zweifel erlaubt, ja sogar dringend notwendig sind, wenn man überhaupt noch Rollen vorfinden möchte.
Ob Wildsau, ob seine tatsächliche und nicht nur vorgespiegelte Heiligkeit, um des Himmels-Titels Willen, alles sucht nach dem geeigneten Darsteller, der bereit ist zu genießen, zu leiden, das Leiden zu genießen oder das Genießen zu erleiden, nachdem man es als Pflichterfüllung deklariert hat. Wer macht wo mit? Wer versucht sich wovor zu drücken? Wer kommt trotzdem nicht heil aus der Sache raus, außer er findet alles ganz toll, und wo ist der eine, der sein Schicksal aus freien Stücken bestimmt?
Freie Stücke sind schwer zu bekommen, schwer zu schreiben, schwer zu lesen, schwer zu verstehen. Manchmal erscheinen sie einem Rolleninhaber auch gewollt so kryptisch, daß er die einfachsten Hinweise nicht mehr richtig verarbeiten kann, weil sich sein Gehirn vorher gewaschen hat. Entweder mit allen Wassern, oder mit allen Teufelselixieren, die man bekommen kann: verordnet von staatswegen oder von einem, der später sowieso an allem schuld gewesen ist.
Die Kette der tollsten Ereignisse rauscht an uns vorbei, solange wir nicht sind, die wunderbarsten Protagonisten locken mit ihrem Reiz unschuldige Seelen, die auch einmal erleben möchten, wie es ist fleischlich zu sein, für die kleine, angstvolle Ewigkeit, die verschiedenartig interpretiert sein will. Wir nennen sie, angesichts unserer Unwissenheit einfach „Leben“.
Nichts kommt davor und Nichts kommt danach, sind wir erst einmal mitten drin, voller Ängste, Schmerzen, Träume, Sehnsüchte, Höhepunkte und Tristessen. Davon sind alle betroffen, wenn auch nicht in gleichem Maß. Da kann beispielsweise einer der Josef Stalin ist, lange Zeit genüsslich Millionen zum Zustand Leiden verhelfen, bevor er dann endlich friedlich einschläft, während ein anderer, der – von sich oder von uns aus gesehen – nur das Beste gewollt hat, dahinsiecht um aller Welt beweisen zu können, daß es eben keine „Höhere Gerechtigkeit“ gibt.
Aber wer legt das fest? Alles Schlechte hat doch auch sein Gutes, oder nicht? Sag das einem Insassen eines Konzentrationslagers und er würde dich erschlagen, sofern er a.) noch die Kraft dafür hätte und es ihm b.) gestattet wäre. Er könnte dich natürlich auch ganz einfach, deiner maßlosen Dummheit wegen, auslachen…aber was ist, wenn du so etwas sagst, viel später geboren und womöglich noch Psychologe bist? Dann hast du a.) recht damit und bist b.) unschuldig, oder etwas in der Art. Doch was du auch bist, du stellst etwas dar: den verkörperten Wahnsinn als „Held“ deiner Zeit.
©Alf Glocker