Der beginnende Wahnsinn in 365 Schtitten / 130

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von Alf Glocker

130. Schritt

Manchmal macht mir die Sache mit der Intelligenz sehr große Kopfzerbrechen! Denn in ihrer Betrachtung bin ich sozusagen gespalten. Mit dem einen Auge blicke ich auf die Welt, mit dem anderen auf diese erstaunlichen Gestalten, die sie offenbar prägen.

Sie bilden keine Mehrheit, sie treten nicht in großen Massen auf, aber bisweilen trifft man sie doch. Sie stechen schon irgendwie deutlich aus all den Nullen hervor, die nur fühlen, daß sie am Leben sind, weiter nichts. Natürlich essen sie auch, sie trinken, sie tun etwas das man „Liebe“ nennt, aber sie belassen es nicht dabei, denn sie sind erfolgreich.

Zuerst erkennt man das nur äußerlich. Die Männer ragen meist etwas höher auf als der Durchschnitt, oft haben sie ebenmäßige Gesichtszüge, sie tragen feine Anzüge, ihre Unterkiefer sind nicht unbedingt der größte Teil des Kopfes – und man sieht sie hauptsächlich telefonieren.

Die Frauen legen entweder einen wichtigen Gesichtsausdruck an den Tag, sind gepflegt, oft langbeinig, neigen zur Schlankheit, sie treiben sich beinahe ausschließlich mit erfolgreichen Männern herum – und sie zeichnen sich vor allem durch entschlossene Blicke aus, oder sie sind einfach nur schön. Beide Sorten Homo sapiens, die dominante männliche und die dominante weibliche haben immer viel zu tun: sie stecken tief in irgendwelchen Verpflichtungen.

Wer sich verbal mit ihnen anzulegen versucht, der stößt auf einen wachen, trendigen Geist (bei den Nur-Schönen muss das nicht grundsätzlich zutreffen), der sich – ausgestattet mit den neuesten Argumenten – stets auf der Höhe der Zeit befindet. Sie sind zielgerichtet und aufstrebend. Dafür sind sie bereit Opfer zu bringen!

Wer in die Tiefen ihres Wissens eindringt, darf anstandslos erbleichen! Nicht gerade selten stößt er dabei auf einen höchst beweglichen Verstand. Fast immer erkennt man sofort, wie informiert die betreffende Person über das derzeitige Weltgeschehen ist – und zwar immer in diese Richtung, die momentan als positiv gilt. Die Leute sind sogar insgesamt so klug, daß man ihre Meinungen für identisch halten könnte.

Das gilt jedoch nur für den „moralischen“ Bereich. Aufgegliedert in die verschiedensten Sparten des Fachwissens zeigen sie dann ihre ganz besondere Qualifikation! Sie leiten Betriebe, verhandeln auf höchster Ebene, planen Mega-Städte, sorgen für Innovationen in Technik und Logistik: sie faszinieren durch ungeheure Betriebsamkeit und sie irritieren uns, weil sie offensichtlich nicht verstehen können, daß es Menschen geben kann die weniger leisten wollen als sie.

Die Vielzahl ihrer Begabungen macht uns auf einen Umstand aufmerksam, den wir alle gerne sehen, so gerne, daß wir manchmal sogar blind für die Wahrheit sind, die, von den Begabungen solcher „Übermenschen“ in allen Hautfarben, unabhängig ihr Unwesen treibt. Wir fragen auch nicht danach, warum die von uns so verehrten Kandidaten praktisch den verschlafenen Künstlerblick Einsteins (um nur einen einer ganz anderen Spezies zu nennen) nicht zur Schau tragen können.

Hat man das heutzutage nicht mehr, wenn man hochintelligent ist? Oder kann man sich diesen Blick einfach nicht mehr leisten? Eine der „richtigen“ Antworten ist sicher: „Es gibt eben derzeit einen Haufen Leute, die sehr viel intelligenter als Einstein sind“. Das klingt logisch, denn Einstein konnte schließlich keinen PC bedienen. Goethe, Shakespeare, oder Aristoteles sind da sowieso ganz außen vor. Mit den noch lebenden Protagonisten der Geisteswelt könnten die sich sicher nicht messen!

Deshalb wäre es sehr wahrscheinlich auch völlig fehl am Platz, wenn beispielsweise ein hoch dotierter Wirtschaftsmanager außergewöhnlich gute Gedichte schreiben könnte. Das hat der doch gar nicht nötig! So etwas ist Kinderkram! Sich einen Gesamtüberblick über das Leben verschaffen zu wollen ist ebenfalls Unsinn, weil unmöglich! Jedenfalls solange man den Fachleuten glaubt, also denen, die klüger als Einstein, Goethe, Shakespeare und Aristoteles zusammengenommen sind. Derlei wird heutzutage einfach schnell mal studiert, gewusst und abgehakt. Es ist nicht effizient, neue Grundlagen für ein sinnvolles Dasein zu entwickeln – weil eben alle schon da sind!

Wer sich gegenwärtig damit beschäftigt, der muss schon einen verrückten Eindruck machen, um wirklich gehört zu werden, und seine „Theorien“ sollten möglichst auch keine eigenen, neuen sein, sondern müssen den Charakter kabarettistischer Übertreibungen haben, um als Marktlücke anerkannt zu werden. Und so müssen ihre Verfechter auch aussehen: sie müssen, total begeistert irgendeinen schon lange bekannten Quatsch erzählen, den wir nur soo noch nicht gehört haben, oder wenigstens einigermaßen kurios gekleidet auftreten, sonst nimmt man ihnen ihre besondere Qualifikation erst gar nicht ab.

Die Welt im Innersten aber wird von denen bewegt, die es verstehen „rein sachlich“ zu bleiben, von denen, die auf der Ebene eines gewaltigen Bildungsstandes fast immer die Disziplin „Werwirdmillionär“ beherrschen. Sie bestimmen nicht nur Politik, Recht und Wirtschaft, sondern auch Kunst und Wissenschaft – und jetzt fange ich grade wieder an mir Sorgen zu machen… Wahnsinn, nichtwahr?!

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