Der Schmerz

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von Heide Nöchel (noé)

Es war das Dunkel, das sie anzog. Die samtige Schwärze der Nacht. Wie klar hier die Luft war! Die Sterne glitzerten und bewegten sich selbstständig über den Himmel, so schien es ihr. Das Dunkel war ihr Freund. Bei diesem Freund konnte sie sein, was und wie sie wollte. Das Dunkel stellte keine Anforderungen an sie, das Dunkel nahm sie freundlich auf, es kritisierte sie nicht.

Unter ihren leichten Schritten knirschte der Kies etwas, er setzte eine Hörspur in die Stille der Nacht. Diese Spur folgte dem geschwungenen Weg, vorbei an den blühenden Rhododendren, entlang der Ligusterhecke. Ein sanfter Windhauch streichelte leicht ihre Haut, als sie hinter der Hecke hervortrat, so zart fühlte er sich an, wie eine zärtliche Hand.

Sie blieb einen Moment lang stehen und schloss die Augen. Dies war ihre Welt, hier sah niemand die Tränenspuren auf ihren Wangen. So sanft war der Hauch des Windes! Er spielte ein wenig mit ihren Haaren und in diesem Augenblick fühlte sie sich fast wohl. Fast.

Sie sah das Blinken des Mondlichtes auf dem Wasser, als sich ihre Augen wieder öffneten. Ihr Gesicht spannte sich wieder und der Anflug des Lächelns verschwand. Jetzt blicklos setzte sie ihren Weg fort, nicht entschlossen, nur mechanisch, Schritt vor Schritt, als würde sie nicht selber laufen. Es lief sie. Es lief sie hinunter an den See.

Sie war bafuß und der See hatte keinen Sandstrand. Rundgeschliffene Steine wurden von leichtem Wellenschlag glasiert und lockten sie. Sie spürte die Kiesel nicht, wie sie den Kies des Weges nicht gespürt hatte. Alles Körpergefühl war aus ihr gewichen. Da war nur der Schmerz, der ihr das Herz klein presste, das unter diesem Druck zu platzen schien.

Schritt vor Schritt, über die glasierten Steine, hinein in das Wasser des Sees. Das Dunkel der Nacht nahm sie freundlich auf, das Wasser umspielte ihren Leib. Sie legte den Kopf in den Nacken, denn nur so konnte der Schmerz ihren Körper verlassen in einem langgezogenen Stöhnen. Leise plätschernd tröstete sie das Wellenspiel, als sie nun auf die Knie fiel und der Weg der Tränen nicht mehr so weit war, sich mit ihm zu vereinen.

Das Mondlicht brach sich auf dem Wasser und das freundliche Dunkel der Nacht sah unter diesem Glitzer nicht die lange Klinge des Messers, die ihre Hand jetzt unter ihrem Stöhnen in ihren Leib schob, tief hiein.

Sie stürzte nach vorne, das tränenüberströmte Gesicht voran, hinein in das warme Wellenspiel und das Messer fand tiefere Aufnahme in ihren Leib. Ihre Lungen bargen das Seewasser, das an dieser Stelle des Ufers eine dunklere Färbung annahm und vorübergehend die Kiesel rötlich lackierte, mit jedem Wellenschlag.

Der Schmerz blieb und setzte sich ans Ufer. Er ließ sich nicht auslöschen. Wenn es so einfach wäre.

Als die Helfer am Morgen ihre Leiche aus dem Wasser zogen, spürten sie bei aller Hektik eine tiefe Melancholie. Wie ein Schleier umwehte sie die lebensvollen Personen. Jeder von ihnen nahm ein Stückchen davon mit sich nach Hause. Und im Dunkel der Nacht, in vielen Träumen, lebte er auf, dieser zurückgelassene Schmerz.

© noé/2015 Alle Rechte bei der Autorin

Auslöser zu diesem Prosa-Text war das Gedicht "Nachts am See" von Giulia Strek.
Danke, Giulia!

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