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Es regnet. Schon seit Tagen. Grau in grau dösen die abgeernteten Rübenäcker, lösen sich in Nebel auf, noch bevor sie den imaginären Horizont erreichen. Der Horizont, das sind links die Zuckerfabrik mit ihren Förderbändern, und rechts das Kraftwerk, dessen Kühltürme auch bei an sich klarem Himmel für Wolkenkulissen sorgen. Bei stetigem Westwind, wie er hier nicht selten ist, wandert der Schatten Woche für Woche die gleiche Strecke über die Felder, während die umliegende Landschaft – und auch das Kraftwerk – in voller Sonne liegen. Eigentlich, denkt Herbert Vomhofe gelegentlich, eigentlich müßte sich doch die Vegetation unter dem Einfluß des Dauerschattens verändern. Nun ja, Vegetation – man müßte den Bauern fragen, ob die Rüben unter der konstanten Wolke größer oder kleiner sind. Denn sonst wächst hier nichts. Einige wenige noch verbliebene Obstbäume an der Landstraße markieren die Richtung, bis sie sich im Nebel verlieren. Herbert Vomhofe stellt die ausgespülte Kaffeetasse auf das Bord am Fenster und stutzt: Sein Blick gleitet die Landstraße entlang. Tatsächlich, es scheint der Briefträger zu sein. Seit Wochen hat er ihn nicht mehr gesehen, die Halbjahresabrechnung für den Strom war die letzte Sendung. Neunundvierzig Euro und dreiundsechzig Cent Gutschrift, erinnert er sich. Seit die Umgehungsstraße um den Ortskern fertiggestellt ist, sind es nur noch die Traktoren im Frühjahr und zur Erntezeit, die auf der alten Straße verkehren. Das Dorf selbst ist etwa zwei Kilometer entfernt, zehn Minuten mit dem Rad für Herbert Vomhofe, einmal, selten zweimal pro Woche. Er ist genügsam und überlegt genau, was er braucht. Zu den Leuten im Dorf hat er keine Beziehung. Nicht, daß da niemand wäre, mit dem ein Gespräch zu führen sich anbieten würde. Aber er braucht das nicht. Er ist genügsam, auch – oder man kann sogar sagen, besonders – was den Umgang mit Menschen betrifft. Und für die Leute im Dorf ist er nicht von Interesse. Er gehört zu dem kleinen Haus an der Ortsgrenze, wie – ja, wie was eigentlich? Es würde niemandem auffallen, wenn er eines Tages nicht mehr käme. Er läßt nicht anschreiben, bittet nie um etwas, grüßt höflich, läßt aber nicht den Wunsch erkennen, auch nur ein weiteres Wort zu wechseln.
Das kleine eiserne Tor quietscht in den Angeln. Der Briefträger hätte genau so gut neben der Pforte zum Haus gelangen können, denn abgesehen von den beiden gemauerten Pfosten, zwischen denen das Tor jetzt schwingt, existiert schon seit langem keine Einfriedung mehr. Allerdings hätte die Tatsache, daß der Briefträger nicht das Gartentor benutzt, Herbert Vomhofe einigermaßen befremdet. Er könnte die Angeln gelegentlich ölen, geht es ihm flüchtig durch den Kopf. Aber etwas läßt ihn diesen Gedanken wieder verwerfen. Es hat weniger damit zu tun, daß es an der Haustür keine Klingel gibt. Man kann schließlich auch anklopfen. Aber dieses Quietschen gehört zu den wenigen Dingen, die er aus seinem früheren Leben in dieses Haus mitgenommen hat. Es gehört dazu, wie die dicke weiße Kaffeetasse, die er eben – beinahe liebevoll – auf das Bord gestellt hat, und wie Herders Konversationslexikon, Ausgabe 1906 mit Ergänzungsbänden bis 1922, in dem schon sein Vater geblättert hat. Als das Tor zum zweitenmal quietscht, hat er den Besuch des Postboten schon wieder vergessen und wendet sich der wartenden Hausarbeit zu, legt das restliche Brot wieder in den Kasten und verschließt stirnrunzelnd die Dose mit Kaffeepulver. Irgendwie ist er heute mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache. Das Kaffeearoma hängt in der Luft und erinnert ihn daran, daß die Dose zu lange offen gestanden hat. Wieder quietscht das Tor. Diesmal ist es der Wind, der in Böen durch den Nebel stößt. Herbert Vomhofe erinnert sich flüchtig, daß der Postbote da gewesen ist. Offenbar hat er das Tor beim Hinausgehen nicht richtig geschlossen. Er schlüpft in ein Paar alte Holzpantinen, die neben dem Hauseingang stehen, und geht vorsichtig auf dem nebelfeuchten Boden zur Pforte, um sie ordentlich zu schließen. Auf dem Rückweg bemerkt er den größeren weißen Umschlag, der noch halb aus dem Blechbriefkasten, der an einem Pfahl neben dem Hauseingang befestigt ist, hervor schaut.
Unschlüssig und keinesfalls neugierig, zieht er den Umschlag aus dem schmalen Briefschlitz heraus. Das Papier ist in der nebligen Luft feucht geworden und reißt an der Ecke etwas ein. Wieder im Haus, legt er den Brief auf den Küchentisch. Dann streift sein Blick den Briefkastenschlüssel, der seitlich am Bord an einem kleinen Haken hängt. Er nimmt ihn ab und geht noch einmal hinaus, um nachzusehen, ob noch mehr Post im Kasten ist. Nein, nichts weiter. Das hätte er sich sparen können, denkt er. Warum hat er den Schlüssel nicht gleich mitgenommen? Ach ja, das Tor, er wollte ja nur das Tor richtig schließen. Er nimmt das Küchentuch von der Stuhllehne und trocknet das restliche Besteck ab. Beim Öffnen der Schublade fällt der Brief auf den Boden. Er bückt sich und überlegt einen Augenblick, dann fällt ihm wieder ein, daß er ihn eben aus dem Kasten geholt hat. Mit dem Messer, das er noch in der Hand hat, öffnet er umständlich den feuchten Umschlag und zieht einen Packen Papiere heraus. Reklame, vermutet er beim Durchblättern, bis ihm ein offenbar persönliches Schreiben auffällt:
Sehr geehrter Herr Vomhofe,
heute können wir Ihnen mitteilen, daß Ihre Bewerbung um einen Altersruhesitz im Rahmen unserer Stiftung angenommen wurde. In der Anlage finden Sie die notwendigen Unterlagen für den Vertragsabschluß, sowie weiteres Informationsmaterial. Wir würden uns freuen, wenn wir Sie zwecks erster persönlicher Kontaktaufnahme und zu Klärung vielleicht noch offener Fragen in unserer Geschäftsstelle begrüßen könnten, und bitten Sie, sich zwecks Terminabsprache mit unserer Frau Wendthaeuser telefonisch oder brieflich in Verbindung zu setzen.
Sämtliche entstehenden Unkosten werden selbstverständlich erstattet, weshalb wir Sie bitten, entsprechende Belege aufzubewahren.
Mit freundlichen Grüßen
Andertmeyer
(Geschäftsführer)
Herbert Vomhofe faltet den Bogen wieder ordentlich zusammen und überlegt. Er gehört zu jenen Menschen, die unter gar keinen Umständen den zweiten Schritt vor dem ersten tun würden. ‚Wer ein Haus bauen will, sollte mit dem Fundament beginnen‘, das war eine stehende Redensart seines Vaters. Der hatte zwar nie