Die Entscheidung - Page 3

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von Dieter J Baumgart

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an die er keinen Gedanken verschwendete. Aber der Bericht über die Stiftung hatte ihn dann wohl doch angeregt, sich näher mit dem Thema zu befassen. Jetzt, da er den Artikel erneut zu lesen beginnt, weiß er zwar noch nicht so recht, was ihn daran angesprochen hat. Doch dann liest er: „...ist diese international tätige Stiftung eine Alternative für alleinstehende Menschen, die – ohne den üblichen finanziellen Aufwand – eine Möglichkeit suchen, ihren Lebensabend in einer Weise zu verbringen, die private Sphäre und medizinischen Schutz in vielerlei Hinsicht verbindet...“ Das war es. Nach dem Tod der Mutter, die nach langer Leidenszeit an einer Krankheit starb, deren Ursache medizinisch nie ganz geklärt werden konnte, verfolgte ihn die Vorstellung, auch einmal in einer solchen Situation zu sein. Natürlich war er bemüht, den Gedanken daran zu unterdrücken oder, wenn das manchmal nicht möglich war, ihm mit rationalen Mitteln zu begegnen. Doch bis zum heutigen Tag ist die Erinnerung an die Leidenszeit seiner Mutter von einem Gefühl des Ausgeliefertseins begleitet, und so haben regelmäßige Arztbesuche Vorrang vor allem, was sonst noch von Wichtigkeit sein könnte.
     Ja, er erinnert sich wieder, das war es. Und so hatte er sich vorgenommen, beim nächsten Untersuchungstermin das Gespräch auf diese Stiftung und das Thema allgemein zu bringen. Das Ergebnis stürzte ihn dann allerdings in einen unerwarteten Zwiespalt: „...nein, Sie sind tatsächlich nicht der erste, der mich darauf anspricht – ja, seltsam, bisher allerdings nur Männer – aber das ist eine andere Sache“, hatte Dr. van Hoorn in seiner angenehmen Art, auch komplizierte Angelegenheiten zu vermitteln, begonnen. „Schauen Sie, vom Medizinischen her wäre der Entschluß, sich dieser Einrichtung anzuvertrauen, das Beste, was Sie sich antun könnten. Aber – nun, ich bin Ihr Arzt, aber ich bin nicht Ihr Pfarrer. Ich will damit sagen, dieser Entschluß hat auch weltanschauliche Konsequenzen. Und in der Angelegenheit kann ich Ihnen tatsächlich nicht helfen. Aber ich will es Ihnen erklären, denn vermutlich kennen Sie bisher nur diesen Artikel. Diese Stiftung ist genaugenommen – und nun müssen Sie bitte nicht erschrecken – Teil eines weltweiten Forschungsinstituts auf dem Gebiet der Gerontologie, der Altersforschung. Die Einrichtung steht unter ständiger Kontrolle der Weltgesundheitsorganisation, und Sie genießen da die bestmögliche medizinische Versorgung. Sie sind allerdings auch Forschungsobjekt. Und nach Ihrem natürlichen Tod – hier wird vom Hirntod ausgegangen – stellen Sie Ihre körperliche Hinterlassenschaft der institutionellen Forschung zur Verfügung. Das heißt, auch schon zu Ihren Lebzeiten werden medizinische Erkenntnisse, die sich aus Ihrem körperlichen und geistigen Verhalten ergeben, genutzt. Sie sind allerdings, und darauf glaube ich, Ihnen mein Wort als Arzt geben zu können, Sie sind kein Versuchskaninchen. Sehen Sie, es hat schon seinen Grund, wenn die Stiftung nur Alleinstehende anspricht. Man wird Sie auch bitten, einen ausführlichen Lebenslauf abzufassen und – nun, für die allgemeinmedizinische Untersuchung wäre ich dann zuständig. Erst danach stellt sich die Frage, ob Sie unter solchen Bedingungen alt werden wollen oder nicht. Ach ja, ich denke, das sollten Sie auch wissen: Sie verkaufen sich nicht an eine Institution, die die gesammelten Forschungsergebnisse an die Arzneimittelindustrie verhökert. Die medizinischen Erkenntnisse stehen ausschließlich den Fachuniversitäten zur Verfügung, die das ganze Unternehmen auch mit finanzieren. Für Sie ist die ganze Sache natürlich kostenlos – aber das haben Sie sicher schon gelesen. Ja, das ist es eigentlich in großen Zügen. Ich vermute, die Anschrift der Stiftung steht auch im Artikel? Sonst kann ich sie Ihnen auch geben. Wie gesagt, es ist mit Sicherheit ein seriöses Unternehmen.“
     Das Wartezimmer war leer, und so hatten sie wohl noch eine Stunde miteinander geredet. Über die lange Leidenszeit seiner Mutter und seine eigenen Befürchtungen. Und auch seine Abneigung gegen zu enge räumliche, wie persönliche Beziehungen kam zur Sprache.
     „Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, meinte der Arzt abschließend, „Sie schreiben Ihren Lebenslauf, darum wird man Sie bitten, in vierzehn Tagen machen wir eine allgemeine Untersuchung – Schwester Carla kann Ihnen gleich einen Termin geben – und dann, nun, dann sehen wir weiter. Wenn Sie die Informationen jetzt anfordern, können Sie das Ganze in vier Wochen abschicken und abwarten, was daraus wird. Das dauert seine Zeit. Schauen Sie, es hat überhaupt keinen Sinn, jetzt schon darüber nachzudenken, ob Sie sich zu diesem Schritt entschließen wollen oder nicht. Sie äußern Ihr Interesse, das ist alles.“
     So war es dann auch gelaufen. Er hatte noch am gleichen Tag ein Farbband für die alte ‚Adler‘ – auch ein Erbstück aus dem Laden – gekauft und sich an den Lebenslauf gemacht. Vierzehn Tage später war die vereinbarte Generaluntersuchung – „Prächtig, Herr Vomhofe, keine Probleme...“, hatte Dr. Van Hoorn verkündet, „Sie werden noch steinalt.“ Herbert Vomhofe erinnert sich jetzt wieder genau: Diese ganze Sache war ihm nicht geheuer, er stand gewissermaßen neben sich und war froh, als er endlich alle Unterlagen beisammen hatte. Der Gang zur Post war für ihn auch der vorläufige Schlußstrich unter diese Angelegenheit, und erleichtert wandte er sich wieder alltäglichen Dingen zu. Tatsächlich gehörte das Ganze so sehr der Vergangenheit an, daß er jetzt erst nachschauen mußte, worum es überhaupt ging. Fast ein wenig atemlos blättert er in den Informationen. Morgen wird er Dr. Van Hoorn anrufen, und irgendwie gibt ihm das etwas Halt. Die Situation ist da! denkt er und überlegt gleichzeitig, wer das gesagt hat. Da ist auch ein Notizzettel: Informationen in der Schublade unten rechts. Dankbar wird er sich seines Sinns für Ordnung bewußt. Ja, natürlich, im Bücherschrank. Er schiebt die Informationen zusammen, legt sie in den Ordner und nimmt alles mit ins Wohnzimmer. In der großen Schublade, neben Fotoalben, Kerzen und Servietten findet er den Karton. Jetzt wird ihm doch etwas schwindlig, die längst vergessene Angst vor einer unbekannten Krankheit wird wieder wach. Unsinn, denkt er, Dr. Van Hoorn... Und außerdem, man würde ihm wohl nicht das Angebot machen, wenn... Trotzdem, das ist doch ein bißchen viel auf einmal, murmelt er, stellt den Karton auf den Couchtisch und geht wieder in die Küche. Jetzt könnte er tatsächlich einen Cognac gebrauchen. Oh nein, weist er sich innerlich zurecht, damit wollen wir gar nicht erst anfangen. Statt dessen trinkt er ein Glas Wasser und beschließt, die Sache auf morgen zu verschieben. Natürlich ist das einfacher gesagt als getan, denn die Gedanken, einmal angeregt, lassen sich nicht so einfach wieder verdrängen. Er bemüht sich, die Dinge realistisch zu sehen. Er weiß, daß er den Rest seines Lebens hier in diesem Haus verbringen wird, wenn nicht... Wenn nicht unvorhersehbare Ereignisse eintreten. Und nun wird er selbst vor die Wahl gestellt, ein solches Ereignis eintreten zu lassen oder nicht. Ausgerechnet ihm muß das passieren, ihm, der stets dankbar zur Kenntnis nahm, wenn er nicht selbst entscheiden mußte. „Wir werden sehen...“ sagt er laut und erschrickt fast vor seiner eigenen Stimme. Dann geht er zurück ins Wohnzimmer.
     Es kostet ihn einige Überwindung, den Karton zu öffnen, so, als ob er sich anschickt, wider besseres Wissen etwas Verbotenes zu tun. Kindheitserinnerungen flackern auf: Das Gesundheitsbuch. Es war eigentlich stets unter Verschluß, aber einmal, nach einem Arztbesuch, hatte seine Mutter vergessen, es wieder wegzuschließen. Er muß so etwa acht, neun Jahre alt gewesen sein, und seine Mutter... Es waren wohl die ersten Anzeichen dieser Krankheit. Die Krankheit... Es ist kühl geworden, der Nebel, die feuchte Luft dringt durch die Türen und Fenster des alten Hauses. Er wird den Ofen anmachen müssen. Das ist das letzte Holz in der Ecke, und Kohlen – ja, er müßte Kohlen bestellen, es dauert immer ein paar Wochen, bis... Nun, sinniert er, es kommt darauf an, wann... Es kommt darauf an, wie ich mich entscheide. Morgen, morgen rufe ich Dr. Van Hoorn an – morgen werde ich mich entscheiden!
     Er geht einen Kiesweg entlang und lauscht den Worten einer jungen Frau: „Das Rauschen dahinten, das ist der ‚Alte Mann‘, der große Wasserfall zwischen dem ersten und zweiten See. Er ist einhundertundzehn Meter hoch und sieht aus, wie ein riesiger, wallender, weißer Bart. Zur Regenzeit, bei Nebel, scheint er tatsächlich zu einem Gesicht zu gehören. Die Eingeborenen sagen, daß dies ein heiliger Ort ist, der Ort der Begrüßung und des Abschieds – Geburt und Tod. Im oberen See, er liegt auf der Höhe des Großen Plateaus und sieht wie ein stiller Weiher aus, da werden die Neugeborenen gebadet. Eine rituelle Waschung, vermutlich so eine Art Taufe, verstehen Sie? Es ist faszinierend, gelegentlich die Wurzeln der großen Glaubensgemeinschaften in den sogenannten Naturreligionen wiederzufinden. Nur ein schmaler Pfad führt ans Ufer, und die alten Männer schlagen ihn immer wieder frei. Sie sagen, sie tun es für sich selbst, es ist ihr Beitrag zur Wiedergeburt, indem sie so den Frauen den Wege zur Waschung ermöglichen. Der mittlere See, er liegt direkt darunter und der Wasserfall verbindet beide, ist der Ort des Abschieds, der Totensee in der griechischen Antike. Die Verstorbenen werden in kunstvoll gearbeitete Gondeln aus Bambus gebettet, die dann von vier Männern, sie dürfen nicht der Familie der Hinterbliebenen angehören, in den See getragen werden. Er ist einiges größer als der obere Teich, und wenn die Träger bis zu den Schultern im Wasser stehen, lassen sie das Totenschiff los. Die Gondel schwimmt dann davon und stürzt wahrscheinlich hinunter in den dritten See. Wir wissen nur, daß er existiert. Mehr nicht. Der Ort des Abschieds, der zweite See ist bis auf den Teil des Ufers, an dem die Bestattung stattfindet, völlig unzugänglich. Und auch der Abfluß in den dritten See ist nicht zu erkennen. Das Gebiet ist durchzogen von Schluchten und vollkommen zugewachsen. Es gibt auch kein Anzeichen dafür, daß das Wasser irgendwo wieder zutage tritt. Wir respektieren das Gebiet selbstverständlich. Wir sind hier Gäste und keine Eindringlinge. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs, da gibt es Talkessel, in denen noch nie jemand war, auch die Eingeborenen nicht. Es kann sein, daß dort auch Menschen leben – wir wissen es nicht, und es ist auch weder unsere Aufgabe, danach zu forschen, noch andere zu solchen Unternehmungen anzuregen. Als wir hier mit unserer Arbeit begannen, bot man uns an, unsere Toten mit den hier üblichen Ritualien zu bestatten. Es war eine kritische Periode, denn es ist absolut ausgeschlossen, hier Erd-, Feuer- oder Seebestattungen durchzuführen. Nach Ansicht der Eingeborenen führt der einzige Weg zur Wiedergeburt über den Ort des Abschieds, den zweiten See. Würde man die Verstorbenen, auch unsere, auf eine andere Weise bestatten, wären ihre Seelen betrogen. Sie würden sich rächen und schreckliche Dinge würden geschehen. Nun – wir mußten sie überzeugen, daß wir keinen Friedhof brauchen – kommen Sie...“
     Sie betreten einen von blauem Dämmerlicht durchfluteten Saal. An den Wänden erkennt er aufgereiht größere gläserne Gefäße, deren Inhalt noch zusätzlich beschattet ist.
     „Nein, wir brauchen keinen Friedhof, denn wir haben den Hirntod besiegt. Schauen Sie“, sie gehen näher an die Wand und stehen jetzt vor einem der Glasbehälter, „das ist Professor Van Hoorn, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Gerontologie. Er arbeitet jetzt frei von...“
     „Nein!“ schreit Herbert Vomhofe und schaut entsetzt um sich. Der Karton mit Informationen ist auf den Boden gefallen, ein Faltblatt liegt obenauf: VERBRINGEN SIE IHREN LEBENSABEND AUF DER INSEL IHRER TRÄUME...
     Er hat geträumt, aber was, es war furchtbar. Der alte Junghans-Regulator an der Wand neben dem Bücherschrank schlägt zwölf Uhr. Wenn er sich beeilt, kann er noch vor halb eins an der Telefonzelle sein. Er wird Dr. Van Hoorn anrufen, gleich, sofort. Er ist jetzt hellwach, aber das Grauen steckt ihm in den Knochen. Er zieht den wollenen Sweater an, holt das Fahrrad aus dem Schuppen und fährt in den Nebel. Die Telefonzelle ist leer. Die Nummer, er hat die Rufnummer nicht dabei. Verzweifelt blättert er in den Resten eines Telefonbuchs. Natürlich, die Seiten von G bis K fehlen. Er überlegt. Das Café unter den Kolonnaden ist noch geöffnet. Er eilt hinüber und bittet um das Telefonbuch, schreibt die Nummer auf und hastet wieder zur Zelle, die zum Glück noch frei ist. Atemlos wählt er, es ist jetzt zwölf Uhr sechsundzwanzig, preßt den Hörer ans Ohr: „Hier ist der automatische Anrufbeantworter, Praxis Dr. Van Hoorn. Die Praxis ist bis auf weiteres nicht besetzt. Bitte wenden Sie sich an den ärztlichen Notdienst oder ...“

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DIE BRÜCKE 2007/1 Zeitschr.
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