Die roten Kreise

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von Daniel G. Spieker

Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal einen der roten Kreise sah. Ich erinnere mich noch genau, ich hatte aus dem Fenster gestarrt und auf den Eismann gewartet. Er kam immer nachmittags und meine Mutter hatte mir manchmal Geld hingelegt, damit ich mir zwei Kugeln holen konnte. Immer zwei Kugeln, immer Himbeer und Schokolade.
Meine Mutter hatte irgendetwas aus der Küche gerufen und ich hatte mich in ihre Richtung gedreht, aber es ging wohl an meinen Vater, denn ich hatte gehört, wie er vom Sofa aufgestanden und zur Küche gegangen war. Als ich mich wieder dem Fenster zugewendet hatte, sah ich mitten auf der Straße einen großen rötlichen Kreis in der Luft schweben. Er flackerte, aber wirkte nicht aus Feuer, eher als würde er aus einem Eimer Farbe bestehen, die viel zu stark waberte. Es irritierte mich, aber als die Klingel des herannahenden Eiswagens ertönte, schnappte ich mein Geld und war direkt nach unten gerannt, aber als ich unten angekommen war, war da kein Eiswagen und von dem Klingeln war keine Spur mehr gewesen. Und auch kein Kreis mehr. Ich hatte lange nicht daran gedacht, bis ich von meinem dritten Tag an der Uni zum Studentenwohnheim zurücklief. Ich bemerkte es erst im Augenwinkel und war irritiert weil ich das Gefühl hatte aus dem Nichts das Klingeln eines Eiswagens zu hören. Langsam drehte ich mich zur Seite und blieb stehen, als ich wieder diesen roten Ring in der Luft sah. Und schlagartig waren da all die Erinnerungen wieder. Völlig erstarrt beobachtete ich das Wabern, diese unwirkliche Erscheinung. Eine Frau, vielleicht Anfang vierzig, lief darauf zu und schien sich nicht darum zu kümmern, schien es überhaupt nicht zu sehen. Auch die Autofahrer oder andere Passanten sahen nichts. Nur ich. Als die Frau den Kreis erreicht hatte, verschwand sie plötzlich und der Ring ebenfalls. Von einer Sekunde auf die nächste, war alles wie zuvor, als wäre da niemals ein Ring gewesen.
Ich wollte rufen, schreien, irgendwie darauf aufmerksam machen, aber niemand hatte es bemerkt. Nur ich. Und ich ging all meine Erinnerungen durch, die ich noch aus der Zeit hatte, in der ich zum ersten Mal den Kreis gesehen hatte. Der Eismann war einfach nicht wiedergekommen und ich hatte es als Kind einfach nach kurzer Zeit vergessen, weil meine Mutter stattdessen Eis im Supermarkt gekauft hatte. So schnell war das für mich erledigt gewesen und wenn ich nicht schlagartig daran erinnert worden wäre, wäre es wohl auch besser so.
War ihm dasselbe passiert? Warum hatte das niemand mitbekommen? War das wirklich real gewesen damals? Oder nur eine wirre Idee, ein seltsamer Traum, eine Assoziation, die aus meiner Kindheit hergeschwappt war, um einen Kontext für das alles zu bekommen? Ich zitterte und holte mein Smartphone hervor und suchte nach meiner alten Stadt, das Wort Eismann und vermisst und tatsächlich fand ich einen digitalisierten Zeitungseintrag. Karl Meisener hieß er. Ich suchte nach ihm und konnte nicht ausmachen, dass er wieder aufgetaucht wäre. Ich steckte das Smartphone weg und starrte zu der Stelle, an der der Ring gewesen war. Nichts. Keine Spur. Ich schritt über die Straße, als es ruhiger wurde und sah mir das von der Nähe aus an. Ich hielt immer noch Abstand, weil ich Sorge hatte, dass der Ring immer noch da war, ich ihn nur nicht sehen konnte. Nichts. Kein extraterristrisches Geräusch, kein seltsamer Geruch, nichts.
Ich überlegte, was ich tun könnte, aber ich hatte keine Ahnung und entschied mich nach Hause zu gehen. Obwohl ich müde und überfordert war, konnte ich nicht schlafen, und holte mein Smartphone wieder hervor, um nach roten Kreisen zu suchen. Natürlich konnte ich nichts finden. Keine Berichte von Leuten, die in irgendwelchen Foren behaupteten, dass sie rote Kreise sähen. Nichts. Ich war wohl die einzige Person, die diese Kreise sehen konnte.

Irgendwann war ich wohl doch eingeschlafen. Gestresst wurde ich von meinem Smartphonewecker wach und warf es, bei dem Versuch den Wecker auszuschalten, auf den Boden. Auf dem Weg zur Universität kam ich wieder an der Stelle vorbei und es war keine Spur davon. Menschen liefen über die Stelle, als wäre dort nichts passiert. Ich wünschte, das wäre alles nur ein mieser Traum gewesen, eine verzerrte Idee aus der Kindheit, die plötzlich wieder Gestalt angenommen hatte, aber ich war mir viel zu sicher. Das war so passiert, daran konnte ich nicht zweifeln.
In der Uni konnte ich mich auf nichts konzentrieren und ich ging nach der ersten Vorlesung wieder nach Hause. Ich war irgendwie zu nichts mehr fähig und alles kam mir surreal vor. Dieser kleine Vorfall hatte mir jedes Vertrauen genommen, das ich darin hatte, wie die Welt funktionierte.
Ich saß in meiner Wohnung an dem Klappesstisch und zeichnete. Nichts Bestimmtes, einfach irgendwelche Figuren, aber schließlich ertappte ich mich dabei, wie ich immer wieder Kreise zeichnete. Wie von selbst hatte mein Kugelschreiber das Papier mit dunkelblauen Kreisen übersät, die mich alle wie lid- und pupillenlose Augen anstarrten. Irgendwann klingelte mein Handy. Lana.
'Wo bleibst du?', fragte sie. Scheiße. Wir wollten zusammen essen gehen. Es war unser zehnmonatiges oder elfmonatiges Jubiläum. Irgendwie sowas.
'Ich bin in dreißig Minuten da, hab's total vergessen, sorry.'
Wir verabschiedeten uns knapp und dann starrte ich nochmal auf das Blatt, riss es aus dem Block, knüllte es zusammen und warf es weg.
Gehetzt zog ich mich an und lief zur Bushaltestelle an der zum Glück gerade ein Bus hielt. Ich erreichte den Italiener bei dem Lana schon wartete und mich stirnrunzelnd ansah. Wir küssten uns und gingen dann hinein, bestellten und aßen. Ich konnte nur an die roten Kreise denken und überall wo ich etwas ringähnliches sah, zuckte ich kurz zusammen.
'Was ist los?', fragte Lana irgendwann und schreckte aus meinen Gedanken hoch.
'Ich … Ich bin einfach nachdenklich.'
Sie nickte.
Wir bezahlten und gingen zu mir, tranken zusammen ein Bier, aber ich war die ganze Zeit abgelenkt von den Gedanken.
'Was ist denn los? Du sagst fast gar nichts heute. Ist jemand gestorben?'
Ich nahm einen Schluck Bier und fing an von den Kreisen zu erzählen.
'Wie sehen sie aus?'
Ich stand auf, holte das Blatt aus dem Müll, entfaltete es und zeigte auf einen der Kreise, die von der Form am nächsten kamen und fing an zu erzählen.
'So sehen sie aus?'
'Nur in rot.'
Ich nickte. Sie holte einen Lippenstift aus ihrer Handtasche und malte den Ring nach und starrte darauf. Dann zuckte sie zusammen.
'Was ist los?'
'Er ist weg.'
Ich sah zu dem Blatt, aber der Kreis war noch da.
'Ich hab ihn gezeichnet und jetzt ist er plötzlich weg.'
Und dann sah ich, wie der Kreis größer wurde und größer.
'Siehst du das nicht?'
Ich stand auf und Lana sah mich fragend an.
'Was meinst du?'
'Auf dem Blatt, der Kreis …'
'Er ist doch weg … das hab ich doch gesagt.' Sie tippte mit dem Finger auf die Stelle an der sie den Kreis gezeichnet hatte, und der Kreis und Lana waren von einem Moment auf den anderen verschwunden.

2

Lana war verschwunden und nicht wiedergekommen. Und ich hatte nur auf das Blatt gestarrt und mich kaum noch bewegt. Ich starrte fast unentwegt aufs Blatt. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht Stunden. Ich bemerkte den Tag und Nachtwechsel nur irgendwo hinten in den ursprünglichsten Prozessen in meinem Gehirn.
Irgendwann kam die Polizei und ich öffnete die Tür und sagte nichts. Sie nahmen mich mit und befragten mich und ich erzählte von den Kreisen und das Lana verschwunden war. Irgendwelche SMS von früher in denen wir uns gestritten hatten wurden ausgegraben und ein paar seltsame Aussagen von falschen Freundinnen ihrerseits waren bald zur Stelle und schließlich landete ich im Gefängnis. Ich hatte regelmäßig Gespräche mit einem Psychologen und erzählte immer wieder dasselbe und es half nichts. Warum sollte mir jemand glauben?
Ich schlief nicht mehr viel und alles Kreisartige machte mir Angst. Irgendwann hatte wohl einer meiner Mitgefangenen von der Kreissache mitbekommen, ob durch mich oder den Psychologen oder sonstwen wusste ich nicht. Jedenfalls als ich vom Essen zurück in meine Zelle kam, waren die Wände überall übersät mit schwarzen Kreisen, die mit einem dicken Edding aufgemalt worden waren. Ich betrat die Zelle nicht mehr und als die Wärter mich dazu zwingen wollten, rastete ich aus und jetzt bin ich hier. Einzelzelle. Vernichtungshaft. Jetzt ist alles erledigt. Eine Geschichte findet ihr Ende.
In meinen Träumen sind die Kreise überall. Ich renne von ihnen weg, sehe wie Verwandte und Freunde von ihnen erledigt werden. Ich weiß nicht, ob da draußen immer noch Kreise sind, ob es noch viel mehr gibt oder sie immer nur in der Nähe von mir erscheinen. Manchmal bilde ich mir ein, dass im Augenwinkel ein Kreis sein könnte. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich sie außerhalb dieser Wände hören kann.
An der Toilette gibt es eine kleine scharfe Stelle an der Unterseite. Man hat viel Zeit, wenn man in so einer Zelle sitzt und lernt sie komplett auswendig. Ich kann nicht mehr. Wo soll ich hin? Meine Freundin ist im besten Fall nur tot, alle halten mich für ihren Mörder und wenn ich irgendwann rauskomme, werden die Kreise nicht weg sein. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, sie warten nur darauf, dass ich wieder auf freien Fuß komme. Es muss aufhören. Und es gibt einen Ausweg aus diesem Gefängnis.
Ich bücke mich herunter, strecke meinen Arm aus und schabe ihn über die Stelle. Er reißt auf, ich unterdrücke einen Schrei und das Blut läuft herunter. Dann gehe ich zu der Wand und male unter höllischen Schmerzen einen Kreis. Langsam Stück für Stück und schließlich ist der Ring komplett. Roter Kreis. Ich trete einen Schritt zurück, um zu sehen, wie er sich verändert. Jede einzelne Unebenheit beobachte ich. Er ist geschlossen. Er ist komplett. Wo werde ich landen? Was wird passieren? Werde ich sterben?

Er … verändert sich nicht. Nichts passiert! Ich zeichne einen weiteren Kreis auf den Boden.
Nichts.
Mehr Kreise, mehr Kreise, aber nichts passiert. Ich spüre wie ich schwächer werde und setze mich auf den Boden und starre fassungslos an die Wände. Nichts. Wie kann das sein? Wie ist das möglich?

Ich höre die Tür hinter mir, aber bewege mich nicht. Ich höre Rufe und dann Schritte. Wärter packen mich und schleifen mich auf die Krankenstation. Keine Chance mehr. Kein Ausweg. Nichts.

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Hörbuchversion von Die roten Kreise
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