Er war wandersüchtig. Jeden Tag musste er mindestens einmal einen Berg hinaufwandern. Schon am Mittag setzten bei ihm die ersten Entzugserscheinungen ein. Seine Füsse begannen an Ort zu treten. Seine Wanderschuhe, die im Geschäft neben dem Pult standen, waren ständig auf den Säntis ausgerichtet. Auch sein Pult hatte er so gedreht, dass er den imposanten Berg ständig beobachten konnte. Wenn die Arbeitszeit vorbei war, machte er sich auf den Weg, bestieg mal den einen oder den anderen Berg im näheren Umkreis des Säntis. Seine Sucht verschlang Unsummen von Geld. Da waren das Benzin, die Gasthausbesuche, die vielen verschiedenen Wanderschuhe, die ein ganzes Zimmer füllten, da waren die Bergfotos, die ein anderes Zimmer tapezierten, die Wanderstöcke, die Wanderdessous usw.
Eines Tages brach er auf einem Berggipfel zusammen. Er wurde in ein Spital eingeliefert. Kurze Zeit später begab er sich in eine Therapie. Der Arzt sagte ihm, er müsse zwei Gänge hinunter-schalten, einfach nichts tun nach der Arbeit, er müsse das Umfeld wechseln, die Wanderkolle-gen vergessen, ebenso die hübschen Serviertöchter in den verschiedenen Gasthäusern.
Schon am 1. Tag der Therapie trickste der Mann den Arzt aus, verschwand durch eine Hinter-türe, weil das Treten an Ort zur Mittagszeit zu gross geworden war, setzte sich in einen Zug und fuhr in Richtung Säntis. Der Arzt hatte das bemerkt und die Alpsteinpolizei benachrichtigt, die den Mann beim Aussteigen aus der Appenzeller Bahn in Gontenbad aufgriff und ihn wieder in die Entzugsklinik zurückbrachte.
In den folgenden Tagen setzte der Arzt den Entflohenen auf das virtuelle Wanderentzugspro-gramm. Nach dem Mittagessen wurde der Mann auf ein Laufband gestellt, man setzte ihm eine Brille auf, mit der er virtuelle Wanderungen im Alpsteingebirge machen konnte. Mit jedem Tag wanderte der Mann ein Stück weit weniger, bis er kein Verlangen mehr hatte, nach dem Mittag-essen irgendwohin zu wandern.
Der Mann geht jetzt wieder seiner Arbeit nach. Sein Pult ist aufs Mittelmeer ausgerichtet, neben dem Pult liegen ein Paar Flossen. Zu Hause besteigt er im Wohnzimmer eine Hängevorrich-tung, die von der Decke herunterhängt. Nach der Arbeit schwimmt er dort mit seinen Flossen virtuell aufs Mittelmeer hinaus und kehrt erst gegen Mitternacht wieder ans sichere Ufer zurück.
© René Oberholzer