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trauriger und meinte, er sei jetzt in der Stimmung, ein wenig zu schreiben.“
„Bist du wenigstens zufrieden mit dem, was du angerichtet hast?“
„Ich glaube, die Traurigkeit macht ihn glücklich.“
„Nimm heute noch eine der Pillen, die der Doktor dir verschrieben hat!“
*
Welche Art von Kuss es gewesen sein mochte, konnte niemand sagen. Joseph Walcott jedenfalls setzte sich noch am selben Abend an den Schreibtisch und begann ein neues Stück. Am folgenden Morgen hatte er es beendet und dem Intendanten vorgelegt. Die Uraufführung fand bereits eine Woche später statt.
Die Zeitungskritiken äußerten sich enthusiastisch und schrieben „Man weiß während des Stückes einfach nicht, ob man weinen oder lachen soll.“
Thalia hatte Mühe, Klio die Situation zu schildern, und ihr Bild auf der Titelseite von Hermes' „Olymp-Illu“ eignete sich nicht gerade, die Beziehung zu entspannen.
Was Melpomene betraf, so war sie glücklich – wenn sie eines solchen Zustandes überhaupt fähig war – über die Entwicklung. Für den Anfang sei dies doch gar nicht so schlecht, meinte sie.
Thalia konnte ihre Einschätzung nicht teilen. Immerhin stieg Joseph Walcotts Laune durch diesen Erfolg und er brachte Melpomene damit in Zusammenhang.
Von dem Tage der Aufführung an sahen die beiden sich täglich. „Sie ist meine Muse,“ erklärte Walcott und wusste nicht, wie sehr er mit dieser Aussage recht hatte.
„Joseph besitzt einen ausgesprochenen Hang zur Dramatik,“ urteilte Melpomene gegenüber Thalia. „ Er ist so wundervoll pessimistisch.“
Es mag kaum verwundern, dass Thalias Beziehung zu Walcott viel kälter blieb. Die meiste Zeit wurde sie zu den Treffen gar nicht eingeladen, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als Melpomene in dieser Angelegenheit zu vertrauen.
In stundenlangen Sitzungen versuchte sie ihrer Kollegin die Vorzüge der Komödie zu erläutern. Irgendwie aber wurde sie das Gefühl nicht los, dass Melpomene sie nicht verstand.
Während Melpomene sich mit Walcott meist in seiner Wohnung traf, saß Thalia in der Kaffeebar herum und probierte sämtliche Sorten aus der Karte aus. Sie schmeckte jedoch kaum den Unterschied.
Wenn sie es recht bedachte, so musste sie sich eingestehen, dass sie sich über Joseph Walcott keine Sorgen machte. Mit Melpomene hatte er nun seine wahre Muse gefunden, und mit der Zeit würde sein komödiantisches Talent gegen die geballte Tragödie der Kollegin keine Chance haben.
Ihre Gedanken hingen immer noch bei Josip Wellcomb. Sie hatte ihren Auftrag nicht ausgeführt, und irgendwo in der Stadt irrte nach wie vor ein glückloser Komödienschreiber herum, den die Götter für eine große Karriere ausersehen hatten.
Noch immer wusste Thalia nicht, wie sie ihn aufspüren sollte. Tyche erneut zu beanspruchen, widersprach allen ihren Instinkten. Und doch sah sie kaum eine andere Möglichkeit, an diesen Wellcomb
heranzukommen. Nur widerstrebend gab sie zu, der Möglichkeit des Zufalls eine erneute Chance zu gewähren. Aber erst morgen, nachdem sie noch eine Nacht darüber geschlafen hatte.
Thalia nutzte für sich diese Redewendung, obwohl sie genau wusste, dass sie nicht anzuwenden war. Melpomene hatte sich am Abend verabschiedet.
„Joseph schreibt an einem neuen Stück und bat mich, dabei zu sein,“ erklärte sie Thalia.
Ihre Kollegin würde also voraussichtlich die ganze Nacht nicht nach Hause kommen, und Thalias Gedanken waren zu aktiv, als dass sie es allein in ihrem Zimmer ausgehalten hätte.
So entschloss sie sich, über die 42. Straße hinunter zu schlendern und in irgendeiner dieser Künstlerkneipen auf den Sonnenaufgang zu warten.
*
Cocktails sind eine Sache, an die man sich erst gewöhnen muss, wenn man noch nicht allzu viel Erfahrung mit ihnen gesammelt hat. Natürlich richtet ein Manhattan keinen sonderlich großen Schaden an, es sei denn, dass er zwei Tequila Sunrise folgt.
Die Phantasie, mit der die Namen für die Getränke ausgewählt werden, verleitet unweigerlich zu weiteren Erstkontakten, dass sich die Testperson nach einer gewissen Zeitspanne auf den Fliesen der Damentoilette wiederfindet.
Dieser Revolution des Körpers folgt jedoch weder die wohltuende Erschöpfung des Schlafes noch die entspannende Wiederherstellung des körperlichen Befindens. Es bleibt ein fader Geschmack im Mund und eine undefinierbare Übelkeit, die einen nahen Tod erahnen lassen.
Thalia wusste natürlich, dass dies Unsinn war. Schließlich kannte sie den Wächter des Hades und konnte mich Bestimmtheit sagen, dass er sich nicht in irgendeine dunkle Seitenstraße Manhattans verirren würde, um sie abzuholen. Für ihn war es viel einfacher, ihr an der Quelle Hippokrene einen Fährmann zu schicken, der sie über den Styx zu ihm brachte.
Was diesen Punkt betraf, war Thalia also sicher. Trotzdem fühlte sie sich dadurch nicht wohler. Sie legte ihren Kopf auf die Bar und ergab sich dem Gefühl der Übelkeit.
„Geben Sie der Lady ein Wasser,“ hörte sie neben sich plötzlich eine Stimme.
Als sie aufblickte, sah sie in zwei braune Augen, die ihr belustigt und verständnisvoll zuzwinkerten.
„Hier,“ sagte der Mann und reichte ihr eine kleine Tablette,“ das ist Borax, danach geht es Ihnen wieder besser.“
„Danke,“ sagte Thalia.
Für einen Moment überlegte sie.
„Nehmen Sie nur,“ sagte der Mann. „Es ist tatsächlich Borax. Nicht wahr, Sally?“
Diese Frage warf er über die Theke der Bedienung zu.
„Ja, Lady, das können Sie ruhig nehmen. Jo hat immer das Zeug bei sich.“
Thalia lächelte Sally zu, die sich aber schon längst wieder abgewandt hatte.
Sie spülte die Tablette mit dem Wasser nach. Aber sie spürte keine Veränderung.
„Dauert eine Weile,“ sagte der Mann, den Sally Jo genannt hatte. „Wie wäre es mit einem Tee? Der beruhigt den Magen.“
Im Grunde hatte Thalia keine Lust auf Tee, aber Jo hatte bereits zwei bei Sally bestellt.
„Warum trinkt eine so hübsche Frau wie Sie allein hier an der Bar?“ wollte Jo wissen.
„Das würden Sie mir nie glauben,“ entgegnete Thalia.
„Na, lassen Sie mich mal raten. Es geht um einen Kerl. Er hat Sie sitzenlassen oder Sie ihn. Nein?“
Thalia schüttelte den Kopf.
„Okay, dann geht es um eine Frau. Auch nicht? Dann sind Sie Cocktailtesterin.“
Thalia lachte und Jo lachte mit.
„Sie müssen mich nicht unterhalten,“ erklärte Thalia.
„Ich mach es aber gern,“ antwortete Jo.
Der Tee beruhigte Thalias Magen tatsächlich ein wenig, und Jo begann von sich zu erzählen. Thalia mochte ihn. Er besaß so wundervolle Augen. In ihnen spiegelte sich ein kleiner Glanz von Schalk, und seine Züge waren weich und freundlich.
Trotz alledem hörte sie ihm nur mit einem Ohr zu. Eine Kindheit in Idaho war nicht gerade ihr Lieblingsthema an einem Abend, an dem sich die Cocktails ein letztes Gefecht in ihrem Körper lieferten.
Doch er redete so nett,
Musen und Götter
Die neun Musen
Erato Liebeslyrik
Euterpe Flötenspiel, Gesang
Kalliope Epische Dichtung
Klio Geschichtsschreibung
Melpomene Tragödie
Polyhymnia hymnische Dichtung
Terpsichore Tanz
Thalia Komödie
Urania Sternenkunde
Götter:
Apollon
Hermes Götterbote
Tyche Göttin des Zufalls
Helikon Wohnort der Musen
Hippokrene Quelle der Musen am Helikon, geschaffen aus einem
Huftritt des Pegasus
Kommentare
Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...
LG Axel
Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus
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