Die zehnte Muse - Page 4

Bild von Magnus Gosdek
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meinen Kuss nicht zurücknehmen?“ wollte Thalia wissen.
„Leider nicht,“ antwortete Hermes. „Wer einmal geküsst wurde, muss damit leben. Willst du ihm eine runterhauen und sagen: Entschuldigung, mein Kuss gilt nicht mehr, ich habe mich vertan?“
Die Musen sahen ein, dass dies nicht funktionierte, und Ratlosigkeit machte sich unter ihnen breit.
„Dann lassen wir es einfach so wie es ist,“ sagte Urania schließlich. „Irgendwie hat dieses Schicksal doch wohl in seinen Sternen gestanden.“
Hermes zuckte mit den Schultern.
„Es sieht wohl so aus. Wahrscheinlich ist es am besten.“
„Ja, es ist am besten,“ stimmte Klio ihm zu und die anderen nickten.
Thalia aber saß stumm dabei und dachte nach. Wie konnte ihr nur ein solcher Fehler unterlaufen? Sicher, es war dunkel gewesen und natürlich, sie hatte Tyche ohnehin in Verdacht, nicht mehr auf der Höhe ihres Schaffens zu sein. Aber trotzdem, sie, Thalia, hatte Joseph Walcott kein Glück gebracht, und das Wissen darum bedrückte sie. Es war entgegen ihrer Natur. Schließlich sagte sie:
„Ich muss Joseph Walcott davon überzeugen, dass Komödien etwas Wundervolles sind.“
„Wie willst du das anstellen?“ wollte Klio wissen.
„Ich habe keine Ahnung,“ antwortete Thalia ihr wahrheitsgemäß.
„Du unterschätzt die Dramatiker,“ meinte Melpomene. „Sie sind ausnehmend stur. Da kannst du nicht einfach ankommen mit deinem: Hey, Lachen ist gesund!“
„Melpomene hat Recht,“ sagte Klio. „Du hast nicht die leiseste Ahnung über Tragödien.“
„Immerhin kann ich es versuchen,“ entgegnete Thalia trotzig und sah zu Hermes hinüber.
Dieser hatte sich während der Unterhaltung einen Apfel gegriffen und schnitt ihn in kleine Scheiben, dass er in diesem Augenblick erschrocken innehielt und Thalia eifrig zunickte.
„Der Mann will sich umbringen,“ fuhr die Muse fort. „Das dürfen wir nicht zulassen.“
Klio dachte einen Augenblick nach und sagte schließlich:
„Also gut, einen Versuch ist es wert. Aber du nimmst Melpomene mit. Sie kann dir als Muse der Tragödie sicherlich einige Ratschläge geben. Eine Woche geben wir dir Zeit.“
Hermes schob eine Apfelscheibe in den Mund und nickte zustimmend.
„Ich denke, dies ist ein Plan, der Zeus gefallen wird.“
*
Es war nicht schwer, Joseph Walcott zu finden. Sein komisches Drama war ein Erfolg am Broadway und wurde jeden Abend vor ausverkauftem Haus in einem der größten Theater der Straße aufgeführt. Der Intendant des Hauses war glücklich, und gerne gab er den beiden Damen die Adresse des Schreibers.
„Grüßen Sie ihn von mir und sagen Sie ihm, dass wir mit Spannung bereits auf sein neues Stück warten,“ rief er ihnen nach.
Die Adresse befand sich außerhalb von Manhattan auf der anderen Seite des Hudson Rivers direkt in Queens. Hier waren die Straßen nicht mehr so breit und die Häuser trugen das lässige Flair der Vernachlässigung.
Joseph Walcotts Haus stand unscheinbar zwischen einer Reihe weiterer Blocks, die sich in nichts voneinander unterschieden. Auf der Treppe saßen ein paar Jugendliche, und sie pfiffen den beiden Musen nach, während sie an dem Häuserblock entlang schritten.
„Sicherlich ist er nicht zu Hause,“ sagte Melpomene und sah an der Fassade empor.
Thalia antwortete ihr nicht. Energisch ging sie die Treppen des Aufganges hoch und suchte auf der Klingelleiste nach dem Namen. Walcott, hieß es dort mit kleiner, krakeliger Schrift, und Thalia drückte auf den Knopf.
Die beiden Frauen warteten einen Augenblick, und die Jugendlichen hatten die Köpfe gewandt und musterten sie. Melpomene, die ebenfalls mit Jeans und Bluse bekleidet war, fühlte sich unwohl und zupfte an sich herum.
„Da gewöhnst du dich drin,“ sagte Thalia, ohne sie weiter zu beachten.
„Ich sagte ja, dass er wahrscheinlich gar nicht da ist,“ entgegnete Melpomene.
Thalia nickte und schon wandten beide Damen sich um, da ertönte leise der Summer. Thalia drückte die Tür auf.
Im Treppenhaus war es finster. Die einzige Deckenbeleuchtung war ausgefallen und in dem Dämmerlicht suchte die Muse nach dem Handlauf der Treppe.
Die Stiegen knarrten und vorsichtig stiegen beide hoch. Walcott wohnte im dritten Stock, in dem ebenfalls die Deckenbeleuchtung ausgefallen war. Die Luft stand im Flur und in die modrige Wärme mischte sich der Geruch von Essen und anderen undefinierbaren Vorgängen, von denen Thalia sich gar nicht vorstellen wollte, was es gewesen sein mochte.
Walcotts Wohnungstür war aus einfachem Holz, und das Namensschild hatte er in Eigenarbeit hergestellt. Die beiden Damen klopften.
Einige Sekunden später wurde die Tür einen Spalt geöffnet und eine kindlich krächzende Stimme fragte:
„Ja?“
„Mr. Walcott?“
„Und?“
„Wir beide haben Ihr neues Stück gesehen und sind glühende Verehrerinnen von Ihnen. Ich bin Lea und das ist Mel.“
„Mel?“ fragte Melpomene leise, Thalia stieß ihr jedoch sanft in die Seite.
„Oh, mein neues Stück. Das ist furchtbar, einfach schrecklich,“ antwortete Walcott.
„Wir möchten uns darüber mit Ihnen unterhalten,“ sprach Thalia weiter.
„Warum?“ wollte Walcott wissen.
Nun, das wusste Thalia auch nicht. Menschen konnten furchtbar kompliziert sein.
„Wir wollten Ihnen nur sagen, wie wundervoll das Stück geworden ist.“
„Wundervoll?“ Walcott lachte heiser hinter der Tür auf. „Das Letzte, was ich jetzt brauche, sind Groupies.“
Damit schloss er die Tür und die beiden Musen sahen sich verwundert an.
„Groupies?“ fragte Melpomene.
Thalia zuckte mit den Schultern.
Irgendwie entwickelte sich die Sache schwieriger als sie es angenommen hatte. Aber dies war noch lange kein Grund, den Mut sinken zu lassen. Sie hatten Joseph Walcott gefunden und Thalia war nicht gewillt, so schnell aufzugeben.
*
Klio hatte sich dieses Mal überreden lassen, den beiden mehr Geld zu geben, dass sie sich um eine Beschäftigung nicht kümmern mussten, auch wenn Thalia Melpomene diese Erfahrung durchaus gegönnt hätte.
Das Hotel, welches sie in Queens fanden, unterschied sich kaum von Thalias alter Unterkunft in Manhattan. Lediglich die Röcke der weiblichen Gäste waren ein wenig länger, aber immerhin noch so kurz, dass Melpomene sie erstaunt musterte und Thalia fragte, wie irgendjemand so überhaupt herumlaufen könne. Thalia entgegnete, dass es mit ein wenig Übung sehr wohl möglich sei.
Als sie in ihrem sparsam ausgestatteten Zimmer saßen, sagte Thalia:
„Wir brauchen einen Plan. Wichtig ist es, Joseph Walcott zu treffen und mit ihm in Ruhe sprechen zu können. Irgendwann wird er seine Wohnung ja mal verlassen. Wir müssen ihn also beobachten.“
„Was meinst du damit?“ wollte Melpomene wissen.
Thalia suchte nach Worten, die ihre Musenkollegin verstand. Schließlich erklärte sie:
„Wir postieren uns vor seiner Wohnung, so wie Romeo vor dem Balkon seiner Julia ihrer harrte. Wenn er herauskommt, folgen wir ihm und dann müssen wir ein wenig improvisieren.“
„Das ist doch Tyches Fachgebiet,“ entgegnete Melpomene, aber aus irgendeinem Grunde war Thalia dagegen, die

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Tyche Göttin des Zufalls
Helikon Wohnort der Musen
Hippokrene Quelle der Musen am Helikon, geschaffen aus einem
Huftritt des Pegasus

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Kommentare

16. Nov 2016

Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...

LG Axel

15. Mär 2017

Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus

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