Die zehnte Muse - Page 6

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noch Lust dazu. Daher antwortete sie:
„Du bist einfach viel besser geeignet, mit dem Doktor zu sprechen. Ich würde die ganze Sache bestimmt vermasseln.“
Damit schien Melpomene sich zufrieden zu geben, jedenfalls sagte sie nichts mehr.
Als Joseph Walcott aus dem Sprechzimmer kam, standen die beiden Musen auf und traten ihm direkt gegenüber.
„So ein Zufall,“ lächelte Thalia. „Wir haben ja den gleichen Doktor.“
„Jaja,“ entgegnete Walcott verwirrt. „Wer sind Sie?“
„Lea und Mel, Sie erinnern sich?“
„Die beiden Groupies vor meiner Tür!“
„Ja, die beiden, aber genau genommen sind wir keine Groupies. Ich ging mit meiner Freundin in die Aufführung, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Sie fand die Dramaturgie Ihrer Geschichte ausgesprochen fabelhaft. Alle Welt sieht das Stück ja nur als Komödie. Dabei hat es viel mehr zu bieten. Stimmt's, Mel?“
Auffordernd wandte sich Thalia nach ihrer Freundin um. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, trat der Doktor aus der Tür und gab den beiden Musen die Hand.
„Bitte treten Sie doch ein, und erzählen Sie mir von Ihrem Problem.“ Sanft schob er sie in Richtung der Tür.
Thalia wandte sich erneut zu Joseph Walcott um.
„Vielleicht können wir uns noch einmal in Ruhe über Ihr Stück unterhalten? In der Kaffeebar um neun?“
Joseph Walcott wiegte den Kopf.
„Haben Sie wirklich den dramatischen Teil des Stückes gespürt?“
„Absolut! Nun, um neun?“
Der Stückeschreiber schien sich unschlüssig.
„Möglich, vielleicht.“
„Also abgemacht,“ entgegnete Thalia, „wir sind um neun in der Bar.“
*
„Ich glaube nicht, dass er kommt.“
„Er wird erscheinen,“ antwortete Thalia. „Du denkst zu negativ.“
„Das hat dieser Doktor auch gesagt. Was sollte das eigentlich bedeuten, ich hätte fundamentale Depressionen?“
„Er meinte, dass du alles schlecht siehst und nicht optimistisch nach vorne blickst.“
„Ich bin die Muse der Tragödie. Das ist mein Beruf. Und im Übrigen möchte ich die Pillen nicht nehmen, die er mir verschrieben hat.“
„Lassen wir das. Erledigen wir hier unseren Auftrag und gehen nach Hause.“
Thalia winkte die Bedienung herbei und bestellte sich einen Kaffee. Insgeheim war sie sich gar nicht so sicher, dass Joseph Walcott kommen würde, aber sie weigerte sich, weiter darüber nachzudenken.
Im Grunde war sie mit der Entwicklung der Dinge recht zufrieden, und nachdem sie nun erst einmal Kontakt aufgenommen hatten, würde sie sich nicht mehr abweisen lassen.
Die Kaffeebar war leer und Thalia überlegte, wie die Besitzer es zustande brachten, Geld einzunehmen. Doch wenn sie es genau bedachte, interessierte es sie nicht wirklich. Hauptsache, der Laden meldete nicht noch in dieser Nacht Konkurs an.
Als es neun Uhr schlug, war von Walcott nichts zu sehen und Melpomene, die den Zeiger sehr wohl im Auge behalten hatte, sagte mit dem ersten Schlag:
„Siehst du, er kommt nicht.“
„Warten wir es ab,“ entgegnete Thalia.
Eine Viertelstunde später begann auch sie an ihrer Aussage zu zweifeln. Dann aber, recht zaghaft, öffnete sich die Tür, und ein Mann betrat die Bar. Er blieb unschlüssig stehen, linste zu der Bedienung hinüber, und als diese ihm nur gelangweilt entgegenblickte, zu den beiden Frauen.
Thalia war aufgestanden und strahlte ihn an.
„Schön, dass Sie gekommen sind. Bitte, setzen wir uns an einen Tisch.“
Noch immer schien Joseph Walcott unschlüssig, aber immerhin kam er der Aufforderung nach und setzte sich an einen der kleinen Tische.
„Sie glauben also wirklich, dass mein Stück dramaturgisch gut ist?“ begann er direkt.
Thalia stieß unter dem Tisch Melpomene mit dem Fuß an.
„Oh ja,“ antwortete Melpomene mechanisch auf die Frage. „Dieses Stück hat zweifelsohne viel mehr Tiefgang, als dass der normale Besucher es zu erfassen vermochte.“
„Aus welchen Szenen ziehen Sie diesen Schluss?“ fragte Walcott weiter.
„Nun, das kann man nicht genau sagen,“ entgegnete Melpomene unbestimmt.
„Meine Freundin glaubt, dass Szenen nicht so wichtig sind. Es ist der grundsätzliche Unterton, der sich durch das gesamte Stück zieht,“ kam Thalia ihr zu Hilfe.
Melpomene nickte eifrig.
„Es ist furchtbar,“ Walcott schlug mit der Stirn zweimal auf den Tisch. „Sie können sich nicht vorstellen, was ich durchmache. Seit Jahren schreibe ich Stücke. Dramen für das Theater, und niemals wurde eines meiner Werke aufgeführt. Und dieses Stück jetzt, dieses missratene Etwas, feiert den großen Erfolg. Ich finde keine Ruhe mehr. Ständig rufen Leute bei mir an und möchten eine neue Komödie von mir haben. Ich kann keine Komödien schreiben!“
„Doch, das können Sie,“ entgegnete Thalia.
„Nein, das kann ich nicht. Ich hasse Komödien. Meine Bestimmung liegt in Dramen und Tragödien.“
Melpomene sah Thalia triumphierend an.
„Ich bin mir sicher, dass Sie darin sehr gut sind,“ sagte sie dann zu Walcott. „Es ist doch viel schwieriger, Tragödien zu schreiben.“
„Aber Sie sind doch schon einen Schritt über den gemeinen Dramatiker hinaus,“ fiel Thalia ihr ins Wort. „Ihnen gelingt es, ihren Dramen einen humoristischen Unterton beizumengen. Ein tiefer Ausdruck der Melancholie.“
„Humoristischen Unterton?“ antwortete Walcott bitter. „Die Zuschauer haben lauthals gelacht.“
„Aus Unverständnis. Ihr Stück gewinnt an Tiefe, je länger es läuft.“
„Ich möchte einfach nur Dramen schreiben.“
Langsam dämmerte es Thalia, dass es kein einfaches Gespräch werden würde. Sie brauchte Zeit, darüber nachzudenken, und obwohl sie Notwendigkeiten dieser Art gar nicht kannte, sagte sie
„Ich verschwinde mal für einen kurzen Augenblick,“ nahm ihre Tasche und ging in Richtung der Toilette davon.
Fünf Minuten später erschien sie wieder. So sehr sie auch darüber nachgedacht hatte, es war ihr keine gute Strategie bei dieser schwierigen Angelegenheit eingefallen.
Melpomene saß am Tisch. Joseph Walcott aber war nicht zu sehen.
„Wo ist er hin?“ fragte Thalia ihre Kollegin.
„Er ist gegangen.“
„Einfach so? Du hast ihn gehen lassen?“
„Ja.“
„Hat er noch etwas gesagt?“
„Wir haben etwas geredet,“ antwortete Melpomene ausweichend.
„Und?“
„Er war so niedergeschlagen.“
„Und?“
„Ich habe mein Möglichstes getan.“
„Und?“
„Naja. Wir redeten und redeten. Aber er will einfach keine Komödien schreiben.“
„?“
„Da hab ich versucht, ihm zu helfen ...“
„?“
„Ich kann das gut.“
„Wie hast du ihm geholfen?“
Melpomene sah Thalia an und lächelte verschämt. Eine Sekunde lang herrschte Stille zwischen den beiden Musen. Dann sackte Thalia zusammen.
„Du hast ihn geküsst!“
Melpomene zuckte mit den Schultern.
„Du solltest ihn nicht küssen,“ erklärte Thalia erbost.
„Ich fand das bloß fair,“ wehrte sich Melpomene. „So eine Art Chancengleichheit. Er kann nun wunderbare Komödien und Tragödien schreiben.“
Thalia spürte, wie sie Kopfschmerzen bekam. Sie konnte sich sehr gut die nächste Schlagzeile in Hermes „Olymp-Illu“ vorstellen. Aber sie würde nicht allein das Titelblatt zieren.
„Er war so traurig,“ sagte Melpomene und dies in einem Tonfall, der aus einem der nächsten Stücke von Joseph Walcott entnommen sein konnte.
„Und als du ihn geküsst hattest?“
„War er noch

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Klio Geschichtsschreibung
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Polyhymnia hymnische Dichtung
Terpsichore Tanz
Thalia Komödie
Urania Sternenkunde
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Hermes Götterbote
Tyche Göttin des Zufalls
Helikon Wohnort der Musen
Hippokrene Quelle der Musen am Helikon, geschaffen aus einem
Huftritt des Pegasus

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Kommentare

16. Nov 2016

Das ist witzig, kunstvoll, klug!
EIN Musen-Kuss war nicht genug ...

LG Axel

15. Mär 2017

Vielen Dankf, Alfred. Schön, dass es Dir gefallen hat. Wahrscheinlich rennt Thalia immer noch in New York rum :-) LG Magnus

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