Wir sind bei unserer "Wochenendliebe" in unserer kleinen "Hütte" vor einem kleinen See, der umrahmt ist von Bäumen. Nur eine kleine Wiese erlaubt einen etwas weiteren Blick. Zigtausende dieser kleinen Waldseen gibt es in Schweden.
Wir haben einen unserer relativ seltenen Besuche so früh im Frühling: Tochter mit Familie, die etwas weiter weg wohnen. Die Mutter - meine Frau - hat morgen Geburtstag, sie wird 75 Jahre alt.
Gullan - meine Frau - und ich legen uns zeitig gegen 20 Uhr in die Betten unseres neuen Häuschens, das wir vor Kurzem eingeweiht haben. In diesem schlafen wir, wenn wir Besuch haben.
Gullan steht, wie ausgemacht, am Morgen um 6 Uhr auf, wäscht sich schnell im Seewasser und geht die wenigen Schritte zu dem etwas größeren Häuschen. Ich bleibe noch eine Weile liegen.
Die Enkeltochter, Moa, ist schon auf. Die Oma hat versprochen, ihr Gesellschaft zu leisten. Moa steht gern früh auf, benötigt nicht so viel Schlaf, wacht auch zwischendurch mal auf.
Sie sitzen zusammem auf der Couch und schauen Kinderfernsehen. Ihre Eltern legen sich wieder hin, um noch eine Weile ungestört zu schlafen.
7. Mai 2016, kurz vor 7:00 Uhr.
Die Oma hat Geburtstag, hat ihr 75stes Jahr bereits überschritten.
Es ist ein wunderbarer Morgen. Ich stehe neben meiner Birke am See, ihre Blätter begrüßen mich lautlos. Ich lausche den Vögeln und denke an den Tag, an dem ich meine Liebe fand.
Am 8. Mai 1970 lernten wir uns in Ravensburg, nahe dem Bodensee, kennen. Sie war schon ein halbes Jahr bei der Firma in Ravensburg und hatte noch ein zweites, bevor sie wieder nach Schweden fahren musste. Mein Arbeitgeber in Düsseldorf schickte mich gleich nach der Beendigung meines Ingenieurstudiums Anfang März 1970 zu der gleichen Firma in ebendieser Stadt. Ich war gar nicht so sehr interessiert daran, nach dreieinhalb Jahren gleich weit weg geschickt zu werden. Ich dachte mir eine Einarbeitungszeit zum Aufwärmen.
Nach einem Monat hat sich meine noch etwas unsichere Laune nicht gelegt.
Dann kam der 8. Mai - und Sie!
Ein wahres Frühlingssommermärchen war die Folge. Das Jahr danach war das Gegenteil. Doch wir kamen wieder zusammen, einige Jahre in Deutschland, dann - ab Juni 1975 - für immer in Schweden.
Die Sonne steigt von links über die Tannen, beleuchtet das stille Wasser und die Bäume auf der anderen Seite des kleinen Sees. Wärme verdrängt die kühle Luft. Ich setze mich auf den altersschwachen Bootssteg und lasse die Füße im Wasser ruhen. Die kleinen Fische sind bereits bereit für das Brotfrühstück, an das sie sich gewöhnt haben. Sie müssen noch etwas warten.
Gute Gedanken gehen durch den Kopf. Sie sagen mir, dass der Tag ein guter wird.
Ich gehe ins Haus, hole Papier und Bleistift und schreibe im Schatten der Birke einen Text über das, was ich sah und dachte. Die Worte fliegen geradewegs vom Frühlingshimmel auf das Papier:
Der allererste Sonnenstrahl
gibt dem Morgen seinen Glanz,
weckt auf das Leben in dem Tal,
bricht der Nebelschwaden Tanz.
Blumen zeigen ihre Farben,
Glitzertau im Gras ich seh.
Winde, die am Abend starben,
streicheln liebevoll den See.
Neugebor'ne Wolkenkinder
fliegen langsam, engelgleich.
Etwas näher ein paar Rinder
grasen stumm in ihrem Reich.
Vogelstimmen preisen Stille,
freudig steh ich und schau zu,
glaubend, dass ein Schöpferwille
demonstriert mir Himmelsruh.
Doch regt in mir sich eine Ahnung,
- Gedanken ziehen hin zum See -
und diese gibt mir eine Mahnung:
Du wirst ihn bald nie wieder sehn.
Das Handy in meiner Hosentasche klingelt. Ich antworte leicht verwirrt. Es ist der Sohn, er will seiner Mutter gratulieren. Er wohnt seit Kurzem wieder in Schweden, ein gutes Stück weiter im Norden des langschmalen Landes. Es wurde ein 45-Minuten-Skypegespräch.
Denke ich an den Sohn, dann denke ich an die Geschäftsreise nach Düsseldorf und an den Anruf meiner hochschwangeren Frau an jenem Sonntag den 19. Oktober 1975:
Ich stand halb wach mit meiner Mutter im Flur ihrer Wohnung im vierten Stock. In einigen Minuten sollte ich mit den früheren Freunden an dem üblichen Sonntagvormittagsfußballspiel mit anschließendem Umtrunk vor dem Mittagessen teilnehmen.
Da klingelt das Telefon. Meine Frau berichtet, dass das Fruchtwasser vier Wochen zu früh austrat. Sie fährt mit einem Taxi die 70 km nach Uppsala in die Entbindungsstation des Krankenhauses.
Ungewohnte Tränen legten sich vor meine Augen. Es war doch ausgemacht, dass ich bei der Geburt des ersten Kindes dabei sein werde. Die Fußballfreunde durften das Spiel ohne mich spielen.
Am nächsten Tag rief mich eine frisch gebackene Mutter froh gelaunt an: "Zehn Minuten vor Mitternacht kam unser Axel zur Welt, ein Sonntagskind!"
Ich spürte eine große Freude in mir. Aber auch eine gewisse Trübsal, weil ich bei diesem Großereignis nicht dabei sein konnte.
© Willi Grigor, 2021
Betreffend meiner "Ahnung" in der letzten Strophe des obigen Gedichts:
Seit dem 1. Juli 2020 ist unsere langjährige "Wochenendliebe" ein Teil unserer Vergangenheit.
Wir werden sie nur noch in unseren Gedanken wiedersehen.