Fräulein Else - Page 19

Bild zeigt Arthur Schnitzler
von Arthur Schnitzler

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stehen Worte darauf. Aufgegeben in Wien vier Uhr dreißig. Nein, ich träume nicht, es ist alles wahr. Und zu Hause warten sie auf die fünfzigtausend Gulden. Und Herr von Dorsday wartet auch. Er soll nur warten. Wir haben ja Zeit. Ah, wie hübsch ist es, so nackt im Zimmer auf- und abzuspazieren. Bin ich wirklich so schön wie im Spiegel? Ach, kommen Sie doch näher, schönes Fräulein. Ich will Ihre blutroten Lippen küssen. Ich will Ihre Brüste an meine Brüste pressen. Wie schade, daß das Glas zwischen uns ist, das kalte Glas. Wie gut würden wir uns miteinander vertragen. Nicht wahr? Wir brauchten gar niemanden andern. Es gibt vielleicht gar keine andern Menschen. Es gibt Telegramme und Hotels und Berge und Bahnhöfe und Wälder, aber Menschen gibt es nicht. Die träumen wir nur. Nur der Doktor Fiala existiert mit der Adresse. Es bleibt immer dieselbe. O, ich bin keineswegs verrückt. Ich bin nur ein wenig erregt. Das ist doch ganz selbstverständlich, bevor man zum zweitenmal auf die Welt kommt. Denn die frühere Else ist schon gestorben. Ja, ganz bestimmt bin ich tot. Da braucht man kein Veronal dazu. Soll ich es nicht weggießen? Das Stubenmädel könnte es aus Versehen trinken. Ich werde einen Zettel hinlegen und darauf schreiben: Gift; nein, lieber: Medizin, – damit dem Stubenmädel nichts geschieht. So edel bin ich. So. Medizin, zweimal unterstrichen und drei Ausrufungszeichen. Jetzt kann nichts passieren. Und wenn ich dann heraufkomme und keine Lust habe mich umzubringen und nur schlafen will, dann trinke ich eben nicht das ganze Glas aus, sondern nur ein Viertel davon oder noch weniger. Ganz einfach. Alles habe ich in meiner Hand. Am einfachsten wäre, ich liefe hinunter – so wie ich bin über Gang und Stiegen. Aber nein, da könnte ich aufgehalten werden, ehe ich unten bin – und ich muß doch die Sicherheit haben, daß der Herr von Dorsday dabei ist! Sonst schickt er natürlich das Geld nicht ab, der Schmutzian. – Aber ich muß ihm ja noch schreiben. Das ist doch das Wichtigste. O, kalt ist die Sessellehne, aber angenehm. Wenn ich meine Villa am italienischen See haben werde, dann werde ich in meinem Park immer nackt herumspazieren . . . Die Füllfeder vermache ich Fred, wenn ich einmal sterbe. Aber vorläufig habe ich etwas Gescheiteres zu tun als zu sterben. ›Hochverehrter Herr Vicomte‹ – also vernünftig Else, keine Aufschrift, weder hochverehrt, noch hochverachtet. ›Ihre Bedingung, Herr von Dorsday, ist erfüllt‹ – – – ›In dem Augenblick, da Sie diese Zeilen lesen, Herr von Dorsday, ist ihre Bedingung erfüllt, wenn auch nicht ganz in der von Ihnen vorgesehenen Weise.‹ – ›Nein, wie gut das Mädel schreibt‹, möcht' der Papa sagen. – ›Und so rechne ich darauf, daß Sie Ihrerseits Ihr Wort halten und die fünfzigtausend Gulden telegraphisch an die bekannte Adresse unverzüglich anweisen lassen werden, Else.‹ Nein, nicht Else. Gar keine Unterschrift. So. Mein schönes gelbes Briefpapier! Hab' ich zu Weihnachten bekommen. Schad' drum. So – und jetzt Telegramm und Brief ins Kuvert. – ›Herrn von Dorsday‹, Zimmer Nummer fünfundsechzig. Wozu die Nummer? Ich lege ihm den Brief einfach vor die Tür im Vorbeigehen. Aber ich muß nicht. Ich muß überhaupt gar nichts. Wenn es mir beliebt, kann ich mich jetzt auch ins Bett legen und schlafen und mich um nichts mehr kümmern. Nicht um den Herrn von Dorsday und nicht um den Papa. Ein gestreifter Sträflingsanzug ist auch ganz elegant. Und erschossen haben sich schon viele. Und sterben müssen wir alle.

Aber du hast ja das alles vorläufig nicht nötig, Papa. Du hast ja deine herrlich gewachsene Tochter, und Adresse bleibt Fiala. Ich werde eine Sammlung einleiten. Mit dem Teller werde ich herumgehen. Warum sollte nur Herr von Dorsday zahlen? Das wäre ein Unrecht. Jeder nach seinen Verhältnissen. Wieviel wird Paul auf den Teller legen? Und wieviel der Herr mit dem goldenen Zwicker? Aber bildet Euch nur ja nicht ein, daß das Vergnügen lange dauern wird. Gleich hülle ich mich wieder ein, laufe die Treppen hinauf in mein Zimmer, sperre mich ein und, wenn es mir beliebt, trinke ich das ganze Glas auf einen Zug. Aber es wird mir nicht belieben. Es wäre nur eine Feigheit. Sie verdienen gar nicht so viel Respekt, die Schufte. Schämen vor Euch? Ich mich schämen vor irgend wem? Das habe ich wirklich nicht nötig. Laß dir noch einmal in die Augen sehen, schöne Else. Was du für Riesenaugen hast, wenn man näher kommt. Ich wollte, es küßte mich einer auf meine Augen, auf meinen blutroten Mund. Kaum über die Knöchel reicht mein Mantel. Man wird sehen, daß meine Füße nackt sind. Was tut's, man wird noch mehr sehen! Aber ich bin nicht verpflichtet. Ich kann gleich wieder umkehren, noch bevor ich unten bin. Im ersten Stock kann ich umkehren. Ich muß überhaupt nicht hinuntergehen. Aber ich will ja. Ich freue mich drauf. Hab' ich mir nicht mein ganzes Leben lang so was gewünscht?

Worauf warte ich denn noch? Ich bin ja bereit. Die Vorstellung kann beginnen. Den Brief nicht vergessen. Eine aristokratische Schrift behauptet Fred. Auf Wiedersehen, Else. Du bist schön mit dem Mantel. Florentinerinnen haben sich so malen lassen. In den Galerien hängen ihre Bilder und es ist eine Ehre für sie. – Man muß gar nichts bemerken, wenn ich den Mantel um habe. Nur die Füße, nur die Füße. Ich nehme die schwarzen Lackschuhe, dann denkt man, es sind fleischfarbene Strümpfe. So werde ich durch die Halle gehen, und kein Mensch wird ahnen, daß unter dem Mantel nichts ist, als ich, ich selber. Und dann kann ich immer noch herauf . . . – Wer spielt denn da unten so schön Klavier? Chopin? – Herr von Dorsday wird etwas nervös sein. Vielleicht hat er Angst vor Paul. Nur Geduld, Geduld, wird sich alles finden. Ich weiß noch gar nichts, Herr von Dorsday, ich bin selber schrecklich gespannt. Licht ausschalten! Ist alles in Ordnung in meinem Zimmer? Leb' wohl, Veronal, auf Wiedersehen. Leb' wohl, mein heißgeliebtes Spiegelbild. Wie du im Dunkel leuchtest. Ich bin schon ganz gewohnt, unter dem Mantel

Veröffentlicht / Quelle: 
Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 324-381. Erstdruck: Die Neue Rundschau, XXXV. Jahrgang, 10. Heft, Oktober 1924.

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Interpretation und Zusammenfassung

Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else (1924) ist ein eindringliches psychologisches Porträt und ein Meilenstein in der Verwendung des inneren Monologs als literarisches Stilmittel. Die Handlung spielt sich überwiegend in der Gedankenwelt der 19-jährigen Else T. ab, einer jungen Frau aus gutbürgerlichem Wiener Milieu, die während eines Aufenthalts in einem italienischen Kurort eine existenzielle Krise durchlebt.

Zusammenfassung

Else erhält von ihrer Mutter einen Brief, in dem sie erfährt, dass ihr Vater, ein finanziell ruinierter Anwalt, dringend 30.000 Gulden benötigt, um einer drohenden Inhaftierung zu entgehen. Else soll den wohlhabenden Kunsthändler Dorsday, der ebenfalls im Kurort verweilt, um das Geld bitten. Dorsday erklärt sich bereit, die Summe zu geben – jedoch unter der Bedingung, dass Else sich ihm nackt zeigt.

Diese Forderung stürzt Else in einen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, familiärer Loyalität und ihrem eigenen moralischen Empfinden. In ihrem inneren Monolog reflektiert sie über ihre Rolle als Frau, ihre Unterwerfung unter patriarchale Machtstrukturen und die sie umgebende Doppelmoral. Zerrissen zwischen Scham, Trotz und Verzweiflung willigt Else schließlich ein, doch die Demütigung und der psychische Druck werden unerträglich. Die Novelle endet tragisch, als Else einen Suizidversuch begeht, indem sie eine Überdosis Veronal nimmt.

Interpretation

Schnitzler thematisiert in Fräulein Else zentrale Motive seiner Werke: die Dekadenz der Wiener Gesellschaft, die Doppelbödigkeit moralischer Normen und die psychologischen Abgründe des Individuums. Durch den inneren Monolog wird der Leser Zeuge von Elses gedanklichem Auf und Ab, ihren Fluchtgedanken, Selbstzweifeln und ihrer inneren Rebellion. Schnitzler schafft eine direkte, intime Verbindung zur Protagonistin und entblößt schonungslos die patriarchalen Machtstrukturen und die Abhängigkeiten, in denen Frauen zu seiner Zeit gefangen waren.

Else ist sowohl Opfer als auch Rebellin: Sie verweigert sich der Männerwelt, die sie auf ihre Sexualität reduziert, und wählt letztlich den Tod als einzigen Ausweg aus ihrer inneren und äußeren Gefangenschaft.

Schnitzlers Bedeutung und andere Werke

Die Novelle steht in einer Reihe mit Schnitzlers weiteren psychologischen Meisterwerken, die häufig die Abgründe der menschlichen Seele und die moralische Dekadenz der Gesellschaft thematisieren. In Leutnant Gustl (1900), einem der ersten Werke, das konsequent den inneren Monolog einsetzt, schildert Schnitzler die zerrissenen Gedanken eines Offiziers, der mit seiner Ehre und dem militärischen Kodex hadert.

Auch die Traumnovelle (1926) – später von Stanley Kubrick als Eyes Wide Shut verfilmt – ist ein weiteres Beispiel für Schnitzlers Faszination für das Zusammenspiel von Traum, Begehren und Realität. Sie thematisiert die Fragilität menschlicher Beziehungen und die Macht unbewusster Triebe. In Casanovas Heimfahrt (1918) wiederum setzt sich Schnitzler mit dem Alter, der Vergänglichkeit und der Nachwirkung eines Lebens voller Hedonismus auseinander.

Fazit

Fräulein Else ist ein literarisches Meisterwerk, das durch seinen innovativen Einsatz des inneren Monologs und seine psychologische Tiefe beeindruckt. Schnitzler gibt der jungen Frau eine Stimme, die ihrer Zeit weit voraus ist, und beleuchtet scharf die Geschlechterrollen und moralischen Konflikte der Gesellschaft seiner Epoche. Wie auch in seinen anderen Werken zeigt sich Schnitzlers außergewöhnliches Talent, die komplexen Verflechtungen von innerer Zerrissenheit, gesellschaftlichem Druck und individueller Freiheit darzustellen.

 

Prosa in Kategorie: 
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