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noch einmal sterben? – »Wollen Sie nicht dafür sorgen, Herr Direktor, daß die Leute sich endlich von der Türe entfernen.« – »Rege dich doch nicht auf, Mama.« – »Es ist eine Rücksichtslosigkeit von den Leuten.« – Warum flüstern sie denn alle? Wie in einem Sterbezimmer. Gleich wird die Bahre da sein. Mach' auf das Tor, Herr Matador! – »Der Gang ist frei.« – »Die Leute könnten doch wenigstens so viel Rücksicht haben.« – »Ich bitte dich, Mama, beruhige dich doch.« – »Bitte, gnädige Frau.« – »Wollen Sie sich nicht ein wenig meiner Mutter annehmen, Frau Cissy?« – Sie ist seine Geliebte, aber sie ist nicht so schön wie ich. Was ist denn schon wieder? Was geschieht denn da? Sie bringen die Bahre. Ich sehe es mit geschlossenen Augen. Das ist die Bahre, auf der sie die Verunglückten tragen. Auf der ist auch der Doktor Zigmondi gelegen, der vom Cimone abgestürzt ist. Und jetzt werde ich auf der Bahre liegen. Ich bin auch abgestürzt. »Ha!« Nein, ich will nicht noch einmal schreien. Sie flüstern. Wer beugt sich über meinen Kopf? Es riecht gut nach Zigaretten. Seine Hand ist unter meinem Kopf. Hände unter meinem Rücken, Hände unter meinen Beinen. Fort fort, rührt mich nicht an. Ich bin ja nackt. Pfui, pfui. Was wollt Ihr denn? Laßt mich in Ruhe. Es war nur für Papa. – »Bitte vorsichtig, so, langsam.« – »Der Plaid?« – »Ja, danke, Frau Cissy.« – Warum dankt er ihr? Was hat sie denn getan? Was geschieht mit mir? Ah, wie gut, wie gut. Ich schwebe. Ich schwebe. Ich schwebe hinüber. Man trägt mich, man trägt mich, man trägt mich zu Grabe. – »Aber mir sein das g'wohnt, Herr Doktor. Da sind schon Schwerere darauf gelegen. Im vorigen Herbst einmal zwei zugleich.« – »Pst, pst.« – »Vielleicht sind Sie so gut, vorauszugehen, Frau Cissy und sehen, ob in Elses Zimmer alles in Ordnung ist.« – Was hat Cissy in meinem Zimmer zu tun? Das Veronal, das Veronal! Wenn sie es nur nicht weggießen. Dann müßte ich mich doch zum Fenster hinunterstürzen. »Danke sehr, Herr Direktor, bemühen Sie sich nicht weiter.« – »Ich werde mir erlauben, später wieder nachzufragen.« – Die Treppe knarrt, die Träger haben schwere Bergstiefel. Wo sind meine Lackschuhe? Im Musikzimmer geblieben. Man wird sie stehlen. Ich habe sie der Agathe vermachen wollen. Fred kriegt meine Füllfeder. Sie tragen mich, sie tragen mich. Trauerzug. Wo ist Dorsday, der Mörder? Fort ist er. Auch der Filou ist fort. Er ist gleich wieder auf die Wanderschaft gegangen. Er ist nur zurückgekommen, um einmal meine weißen Brüste zu sehen. Und jetzt ist er wieder fort. Er geht einen schwindligen Weg zwischen Felsen und Abgrund; – leb' wohl, leb' wohl. – Ich schwebe, ich schwebe. Sie sollen mich nur hinauftragen, immer weiter, bis zum Dach, bis zum Himmel. Das wäre so bequem. – »Ich habe es ja kommen gesehen, Paul.« – Was hat die Tante kommen gesehen? – »Schon die ganzen letzten Tage habe ich so etwas kommen gesehen. Sie ist überhaupt nicht normal. Sie muß natürlich in eine Anstalt.« – »Aber Mama, jetzt ist doch nicht der Moment davon zu reden.« – Anstalt –? Anstalt –?! – »Du denkst doch nicht, Paul, daß ich in ein und demselben Coupé mit dieser Person nach Wien fahren werde. Da könnte man schöne Sachen erleben.« – »Es wird nicht das Geringste passieren, Mama. Ich garantiere dir, daß du keinerlei Ungelegenheiten haben wirst.« – »Wie kannst du das garantieren?« – Nein, Tante, du sollst keine Ungelegenheiten haben. Niemand wird Ungelegenheiten haben. Nicht einmal Herr von Dorsday. Wo sind wir denn? Wir bleiben stehen. Wir sind im zweiten Stock. Ich werde blinzeln. Cissy steht in der Tür und spricht mit Paul. – »Hieher bitte. So. So. Hier. Danke. Rücken Sie die Bahre ganz nah ans Bett heran.« – Sie heben die Bahre. Sie tragen mich. Wie gut. Nun bin ich wieder zu Hause. Ah! – »Danke. So, es ist schon recht. Bitte die Türe zu schließen. – Wenn Sie so gut sein wollten mir zu helfen, Cissy.« – »O, mit Vergnügen, Herr Doktor.« – »Langsam, bitte. Hier, bitte, Cissy, fassen Sie sie an. Hier an den Beinen. Vorsichtig. Und dann – – Else – –? Hörst du mich, Else?« – Aber natürlich höre ich dich, Paul. Ich höre alles. Aber was geht Euch das an. Es ist ja so schön, ohnmächtig zu sein. Ach, macht, was Ihr wollt. – »Paul!« – »Gnädige Frau?« – »Glaubst du wirklich, daß sie bewußtlos ist, Paul?« – Du? Sie sagt ihm du. Hab' ich Euch erwischt! Du sagt sie ihm! – »Ja, sie ist vollkommen bewußtlos. Das kommt nach solchen Anfällen gewöhnlich vor.« – »Nein, Paul, du bist zum Kranklachen, wenn du dich so erwachsen als Doktor benimmst.« – Hab' ich Euch, Schwindelbande! Hab' ich Euch? – »Still, Cissy.« – »Warum denn, wenn sie nichts hört?!« – Was ist denn geschehen? Nackt liege ich im Bett unter der Decke. Wie haben sie das gemacht? – »Nun, wie geht's? Besser?« – Das ist ja die Tante. Was will sie denn da? – »Noch immer ohnmächtig?« – Auf den Zehenspitzen schleicht sie heran. Sie soll zum Teufel gehen. Ich laß mich in keine Anstalt bringen. Ich bin nicht irrsinnig. – »Kann man sie nicht zum Bewußtsein erwecken?« – »Sie wird bald wieder zu sich kommen, Mama. Jetzt braucht sie nichts als Ruhe. Übrigens du auch, Mama. Möchtest du nicht schlafen gehen? Es besteht absolut keine Gefahr. Ich werde zusammen mit Frau Cissy bei Else Nachtwache halten.« – »Jawohl, gnädige Frau, ich bin die Gardedame. Oder Else, wie man's nimmt.« – Elendes Frauenzimmer. Ich liege hier ohnmächtig und sie macht Spässe. »Und ich kann mich darauf verlassen, Paul, daß du mich wecken läßt, sobald der Arzt kommt?« – »Aber Mama, der kommt nicht vor morgen früh.« – »Sie sieht aus, als wenn sie schliefe. Ihr Atem geht ganz ruhig.« – »Es ist ja auch eine Art von Schlaf, Mama.« – »Ich kann mich noch immer nicht fassen, Paul, ein solcher Skandal! –
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Interpretation und Zusammenfassung
Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else (1924) ist ein eindringliches psychologisches Porträt und ein Meilenstein in der Verwendung des inneren Monologs als literarisches Stilmittel. Die Handlung spielt sich überwiegend in der Gedankenwelt der 19-jährigen Else T. ab, einer jungen Frau aus gutbürgerlichem Wiener Milieu, die während eines Aufenthalts in einem italienischen Kurort eine existenzielle Krise durchlebt.
Zusammenfassung
Else erhält von ihrer Mutter einen Brief, in dem sie erfährt, dass ihr Vater, ein finanziell ruinierter Anwalt, dringend 30.000 Gulden benötigt, um einer drohenden Inhaftierung zu entgehen. Else soll den wohlhabenden Kunsthändler Dorsday, der ebenfalls im Kurort verweilt, um das Geld bitten. Dorsday erklärt sich bereit, die Summe zu geben – jedoch unter der Bedingung, dass Else sich ihm nackt zeigt.
Diese Forderung stürzt Else in einen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, familiärer Loyalität und ihrem eigenen moralischen Empfinden. In ihrem inneren Monolog reflektiert sie über ihre Rolle als Frau, ihre Unterwerfung unter patriarchale Machtstrukturen und die sie umgebende Doppelmoral. Zerrissen zwischen Scham, Trotz und Verzweiflung willigt Else schließlich ein, doch die Demütigung und der psychische Druck werden unerträglich. Die Novelle endet tragisch, als Else einen Suizidversuch begeht, indem sie eine Überdosis Veronal nimmt.
Interpretation
Schnitzler thematisiert in Fräulein Else zentrale Motive seiner Werke: die Dekadenz der Wiener Gesellschaft, die Doppelbödigkeit moralischer Normen und die psychologischen Abgründe des Individuums. Durch den inneren Monolog wird der Leser Zeuge von Elses gedanklichem Auf und Ab, ihren Fluchtgedanken, Selbstzweifeln und ihrer inneren Rebellion. Schnitzler schafft eine direkte, intime Verbindung zur Protagonistin und entblößt schonungslos die patriarchalen Machtstrukturen und die Abhängigkeiten, in denen Frauen zu seiner Zeit gefangen waren.
Else ist sowohl Opfer als auch Rebellin: Sie verweigert sich der Männerwelt, die sie auf ihre Sexualität reduziert, und wählt letztlich den Tod als einzigen Ausweg aus ihrer inneren und äußeren Gefangenschaft.
Schnitzlers Bedeutung und andere Werke
Die Novelle steht in einer Reihe mit Schnitzlers weiteren psychologischen Meisterwerken, die häufig die Abgründe der menschlichen Seele und die moralische Dekadenz der Gesellschaft thematisieren. In Leutnant Gustl (1900), einem der ersten Werke, das konsequent den inneren Monolog einsetzt, schildert Schnitzler die zerrissenen Gedanken eines Offiziers, der mit seiner Ehre und dem militärischen Kodex hadert.
Auch die Traumnovelle (1926) – später von Stanley Kubrick als Eyes Wide Shut verfilmt – ist ein weiteres Beispiel für Schnitzlers Faszination für das Zusammenspiel von Traum, Begehren und Realität. Sie thematisiert die Fragilität menschlicher Beziehungen und die Macht unbewusster Triebe. In Casanovas Heimfahrt (1918) wiederum setzt sich Schnitzler mit dem Alter, der Vergänglichkeit und der Nachwirkung eines Lebens voller Hedonismus auseinander.
Fazit
Fräulein Else ist ein literarisches Meisterwerk, das durch seinen innovativen Einsatz des inneren Monologs und seine psychologische Tiefe beeindruckt. Schnitzler gibt der jungen Frau eine Stimme, die ihrer Zeit weit voraus ist, und beleuchtet scharf die Geschlechterrollen und moralischen Konflikte der Gesellschaft seiner Epoche. Wie auch in seinen anderen Werken zeigt sich Schnitzlers außergewöhnliches Talent, die komplexen Verflechtungen von innerer Zerrissenheit, gesellschaftlichem Druck und individueller Freiheit darzustellen.