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will Veronal nehmen und schlafen. Sie haben sich geirrt, Herr von Dorsday, ich bin keine Dirne. Adieu, adieu! . . . Ha, er schaut auf. Da bin ich, Herr von Dorsday. Was für Augen er macht. Seine Lippen zittern. Er bohrt seine Augen in meine Stirn. Er ahnt nicht, daß ich nackt bin unter dem Mantel. Lassen Sie mich fort, lassen Sie mich fort! Seine Augen glühen. Seine Augen drohen. Was wollen Sie von mir? Sie sind ein Schuft. Keiner sieht mich als er. Sie hören zu. So kommen Sie doch, Herr von Dorsday! Merken Sie nichts? Dort im Fauteuil – Herrgott, im Fauteuil – das ist ja der Filou! Himmel, ich danke dir. Er ist wieder da, er ist wieder da! Er war nur auf einer Tour! Jetzt ist er wieder da. Der Römerkopf ist wieder da. Mein Bräutigam, mein Geliebter. Aber er sieht mich nicht. Er soll mich auch nicht sehen. Was wollen Sie, Herr von Dorsday? Sie schauen mich an, als wenn ich Ihre Sklavin wäre. Ich bin nicht Ihre Sklavin. Fünfzigtausend! Bleibt es bei unserer Abmachung, Herr von Dorsday? Ich bin bereit. Da bin ich. Ich bin ganz ruhig. Ich lächle. Verstehen Sie meinen Blick? Sein Auge spricht zu mir: komm! Sein Auge spricht: ich will dich nackt sehen. Nun, du Schuft, ich bin ja nackt. Was willst du denn noch? Schick die Depesche ab . . . Sofort . . . Es rieselt durch meine Haut. Die Dame spielt weiter. Köstlich rieselt es durch meine Haut. Wie wundervoll ist es nackt zu sein. Die Dame spielt weiter, sie weiß nicht, was hier geschieht. Niemand weiß es. Keiner noch sieht mich. Filou, Filou! Nackt stehe ich da. Dorsday reißt die Augen auf. Jetzt endlich glaubt er es. Der Filou steht auf. Seine Augen leuchten. Du verstehst mich, schöner Jüngling. »Haha!« Die Dame spielt nicht mehr. Der Papa ist gerettet. Fünfzigtausend! Adresse bleibt Fiala! »Ha, ha, ha!« Wer lacht denn da? Ich selber? »Ha, ha, ha!« Was sind denn das für Gesichter um mich? »Ha, ha, ha!« Zu dumm, daß ich lache. Ich will nicht lachen, ich will nicht. »Haha!« – »Else!« – Wer ruft Else? Das ist Paul. Er muß hinter mir sein. Ich spüre einen Luftzug über meinen nackten Rücken. Es saust in meinen Ohren. Vielleicht bin ich schon tot? Was wollen Sie, Herr von Dorsday? Warum sind Sie so groß und stürzen über mich her? »Ha, ha, ha!«
Was habe ich denn getan? Was habe ich getan? Was habe ich getan? Ich falle um. Alles ist vorbei. Warum ist denn keine Musik mehr? Ein Arm schlingt sich um meinen Nacken. Das ist Paul. Wo ist denn der Filou? Da lieg ich . . . »Ha, ha, ha!« Der Mantel fliegt auf mich herab. Und ich liege da. Die Leute halten mich für ohnmächtig. Nein, ich bin nicht ohnmächtig. Ich bin bei vollem Bewußtsein. Ich bin hundertmal wach, ich bin tausendmal wach. Ich muß nur immer lachen. »Ha, ha, ha!« Jetzt haben Sie Ihren Willen, Herr von Dorsday, Sie müssen das Geld für Papa schicken. Sofort. »Haaaah!« Ich will nicht schreien, und ich muß immer schreien. Warum muß ich denn schreien. – Meine Augen sind zu. Niemand kann mich sehen. Papa ist gerettet. – »Else!« – Das ist die Tante. – »Else! Else!« – »Ein Arzt, ein Arzt!« – »Geschwind zum Portier!« – »Was ist denn passiert?« – »Das ist ja nicht möglich.« – »Das arme Kind.« – Was reden sie denn da? Was murmeln sie denn da? Ich bin kein armes Kind. Ich bin glücklich. Der Filou hat mich nackt gesehen. O, ich schäme mich so. Was habe ich getan? Nie wieder werde ich die Augen öffnen. – »Bitte, die Türe schließen.« – Warum soll man die Türe schließen? Was für Gemurmel. Tausend Leute sind um mich. Sie halten mich alle für ohnmächtig. Ich bin nicht ohnmächtig. Ich träume nur. – »Beruhigen Sie sich doch, gnädige Frau.« – »Ist schon um den Arzt geschickt?« – »Es ist ein Ohnmachtsanfall.« – Wie weit sie alle weg sind. Sie sprechen alle vom Cimone herunter. – »Man kann sie doch nicht auf dem Boden liegen lassen.« – »Hier ist ein Plaid.« – »Eine Decke.« – »Decke oder Plaid, das ist ja gleichgültig.« – »Bitte doch um Ruhe.« – »Auf den Diwan.« – »Bitte doch endlich die Türe zu schließen.« – »Nicht so nervös sein, sie ist ja geschlossen.« – »Else! Else!« – Wenn die Tante nur endlich still wär! – »Hörst du mich Else?« – »Du siehst doch, Mama, daß sie ohnmächtig ist.« – Ja, Gott sei Dank, für Euch bin ich ohnmächtig. Und ich bleibe auch ohnmächtig. – »Wir müssen sie auf ihr Zimmer bringen.« – »Was ist denn da geschehen? Um Gottes willen!« – Cissy. Wie kommt denn Cissy auf die Wiese. Ach, es ist ja nicht die Wiese. – »Else!« – »Bitte um Ruhe.« – »Bitte ein wenig zurückzutreten.« – Hände, Hände unter mir. Was wollen sie denn? Wie schwer ich bin. Pauls Hände. Fort, fort. Der Filou ist in meiner Nähe, ich spüre es. Und Dorsday ist fort. Man muß ihn suchen. Er darf sich nicht umbringen, ehe er die fünfzigtausend abgeschickt hat. Meine Herrschaften, er ist mir Geld schuldig. Verhaften Sie ihn. »Hast du eine Ahnung, von wem die Depesche war, Paul?« – »Guten Abend, meine Herrschaften.« – »Else, hörst du mich?« – »Lassen Sie sie doch, Frau Cissy.« – »Ach Paul.« – »Der Direktor sagt, es kann vier Stunden dauern, bis der Doktor da ist.« – »Sie sieht aus, als wenn sie schliefe.« – Ich liege auf dem Diwan, Paul hält meine Hand, er fühlt mir den Puls. Richtig, er ist ja Arzt. – »Von Gefahr ist keine Rede, Mama. Ein – Anfall.« – »Keinen Tag länger bleibe ich im Hotel.« – »Bitte dich, Mama.« – »Morgen früh reisen wir ab.« – »Aber einfach über die Dienerschaftsstiege. Die Tragbahre wird sofort hier sein.« – Bahre? Bin ich nicht heute schon auf einer Bahre gelegen? War ich nicht schon tot? Muß ich denn
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Interpretation und Zusammenfassung
Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else (1924) ist ein eindringliches psychologisches Porträt und ein Meilenstein in der Verwendung des inneren Monologs als literarisches Stilmittel. Die Handlung spielt sich überwiegend in der Gedankenwelt der 19-jährigen Else T. ab, einer jungen Frau aus gutbürgerlichem Wiener Milieu, die während eines Aufenthalts in einem italienischen Kurort eine existenzielle Krise durchlebt.
Zusammenfassung
Else erhält von ihrer Mutter einen Brief, in dem sie erfährt, dass ihr Vater, ein finanziell ruinierter Anwalt, dringend 30.000 Gulden benötigt, um einer drohenden Inhaftierung zu entgehen. Else soll den wohlhabenden Kunsthändler Dorsday, der ebenfalls im Kurort verweilt, um das Geld bitten. Dorsday erklärt sich bereit, die Summe zu geben – jedoch unter der Bedingung, dass Else sich ihm nackt zeigt.
Diese Forderung stürzt Else in einen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, familiärer Loyalität und ihrem eigenen moralischen Empfinden. In ihrem inneren Monolog reflektiert sie über ihre Rolle als Frau, ihre Unterwerfung unter patriarchale Machtstrukturen und die sie umgebende Doppelmoral. Zerrissen zwischen Scham, Trotz und Verzweiflung willigt Else schließlich ein, doch die Demütigung und der psychische Druck werden unerträglich. Die Novelle endet tragisch, als Else einen Suizidversuch begeht, indem sie eine Überdosis Veronal nimmt.
Interpretation
Schnitzler thematisiert in Fräulein Else zentrale Motive seiner Werke: die Dekadenz der Wiener Gesellschaft, die Doppelbödigkeit moralischer Normen und die psychologischen Abgründe des Individuums. Durch den inneren Monolog wird der Leser Zeuge von Elses gedanklichem Auf und Ab, ihren Fluchtgedanken, Selbstzweifeln und ihrer inneren Rebellion. Schnitzler schafft eine direkte, intime Verbindung zur Protagonistin und entblößt schonungslos die patriarchalen Machtstrukturen und die Abhängigkeiten, in denen Frauen zu seiner Zeit gefangen waren.
Else ist sowohl Opfer als auch Rebellin: Sie verweigert sich der Männerwelt, die sie auf ihre Sexualität reduziert, und wählt letztlich den Tod als einzigen Ausweg aus ihrer inneren und äußeren Gefangenschaft.
Schnitzlers Bedeutung und andere Werke
Die Novelle steht in einer Reihe mit Schnitzlers weiteren psychologischen Meisterwerken, die häufig die Abgründe der menschlichen Seele und die moralische Dekadenz der Gesellschaft thematisieren. In Leutnant Gustl (1900), einem der ersten Werke, das konsequent den inneren Monolog einsetzt, schildert Schnitzler die zerrissenen Gedanken eines Offiziers, der mit seiner Ehre und dem militärischen Kodex hadert.
Auch die Traumnovelle (1926) – später von Stanley Kubrick als Eyes Wide Shut verfilmt – ist ein weiteres Beispiel für Schnitzlers Faszination für das Zusammenspiel von Traum, Begehren und Realität. Sie thematisiert die Fragilität menschlicher Beziehungen und die Macht unbewusster Triebe. In Casanovas Heimfahrt (1918) wiederum setzt sich Schnitzler mit dem Alter, der Vergänglichkeit und der Nachwirkung eines Lebens voller Hedonismus auseinander.
Fazit
Fräulein Else ist ein literarisches Meisterwerk, das durch seinen innovativen Einsatz des inneren Monologs und seine psychologische Tiefe beeindruckt. Schnitzler gibt der jungen Frau eine Stimme, die ihrer Zeit weit voraus ist, und beleuchtet scharf die Geschlechterrollen und moralischen Konflikte der Gesellschaft seiner Epoche. Wie auch in seinen anderen Werken zeigt sich Schnitzlers außergewöhnliches Talent, die komplexen Verflechtungen von innerer Zerrissenheit, gesellschaftlichem Druck und individueller Freiheit darzustellen.