Die Brück' am Tay.

Bild zeigt Theodor Fontane
von Theodor Fontane

»Wann treffen wir drei wieder zusamm'?«
»Um die siebente Stund', am Brückendamm.«
»Am Mittelpfeiler.«
»Ich lösch die Flamm'.«
»Ich mit.«
»Ich komme vom Norden her.«
»Und ich vom Süden.«
»Und ich vom Meer.«

»Hei, das gibt ein Ringelreihn,
und die Brücke muß in den Grund hinein.«
»Und der Zug, der in die Brücke tritt
um die siebente Stund'?«
»Ei, der muß mit.«
»Muß mit.«
»Tand, Tand
ist das Gebild von Menschenhand.«

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut', ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu,
sehen und warten, ob nicht ein Licht
übers Wasser hin »ich komme" spricht,
»ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
ich, der Edinburger Zug.«

Und der Brückner jetzt: »Ich seh einen Schein
am andern Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
unser Johnie kommt und will seinen Baum,
und was noch am Baume von Lichtern ist,
zünd alles an wie zum heiligen Christ,
der will heuer zweimal mit uns sein, –
und in elf Minuten ist er herein.«

Und es war der Zug. Am Süderturm
keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
und Johnie spricht: »Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
die bleiben Sieger in solchem Kampf,
und wie's auch rast und ringt und rennt,
wir kriegen es unter: das Element.

Und unser Stolz ist unsre Brück';
ich lache, denk ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die Not
mit dem elend alten Schifferboot;
wie manche liebe Christfestnacht
hab ich im Fährhaus zugebracht
und sah unsrer Fenster lichten Schein
und zählte und konnte nicht drüben sein.«

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu;
denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
erglüht es in niederschießender Pracht
überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht.

»Wann treffen wir drei wieder zusamm'?«
»Um Mitternacht, am Bergeskamm.«
»Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.«
»Ich komme.«
»Ich mit.«
»Ich nenn euch die Zahl.«
»Und ich die Namen.«
»Und ich die Qual.«
»Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.«
»Tand, Tand
ist das Gebilde von Menschenhand«

Veröffentlicht / Quelle: 
Theodor Fontane: Die Brück’ am Tay. In: Deutsche Gedichte II, 4. Auflage, Frankfurt/Main: Insel Verlag, 1984, S. 585 ff.

Gedichtanalyse

Einführung und Kontext

Theodor Fontanes Ballade „Die Brück' am Tay“ behandelt die historische Tragödie des Brückeneinsturzes über den Fluss Tay in Schottland am 28. Dezember 1879. Dabei verunglückte ein Zug bei der Überfahrt, und es starben alle Passagiere. Fontane gestaltet das Gedicht als balladenartige Erzählung, die Elemente von Dramatik, Schicksal und menschlicher Hybris vereint. Die Ballade reflektiert nicht nur den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts, sondern auch dessen Gefahren, indem sie die Vergänglichkeit menschlicher Werke thematisiert.


Form und Struktur

Das Gedicht ist in dialogischer Form gehalten, wobei die Strophen abwechselnd aus den Perspektiven der Naturgewalten und der Menschen erzählt werden. Die Verslänge variiert, wobei ein dynamischer Wechsel zwischen kurzen, eindringlichen Versen und längeren, beschreibenden Passagen die Spannung steigert. Der Paarreim dominiert, was die Ballade rhythmisch und leicht lesbar macht, während die Dialoge einen dramatischen Charakter betonen.


Inhalt und Zusammenfassung

  1. Einleitung: Die ersten Verse stellen drei Naturgewalten vor – den Sturm, das Meer und den Nordwind. Diese Kräfte verbünden sich und planen, die Brücke um die „siebente Stund'“ zu zerstören. Hier zeigt sich bereits die Kontrastierung zwischen den scheinbar unbezwingbaren Kräften der Natur und den menschlichen Errungenschaften.

  2. Die Brücknersleute: Im Brückenhaus auf der Nordseite warten die Brücknersleute sehnsüchtig auf den Zug aus Edinburgh, in dem ihr Sohn Johnie sitzt. Ihre bange Erwartung wird durch das Vertrauen in die Brücke und den Fortschritt der Technik gemildert.

  3. Johnie im Zug: Johnie, ein Symbol des Fortschrittsglaubens, äußert stolz seine Überzeugung, dass der Mensch die Natur mit Technologie besiegt habe. Er erinnert sich nostalgisch an frühere Zeiten, als man mit Fährbooten übersetzen musste, und sieht in der Brücke einen Triumph des Fortschritts.

  4. Katastrophe: Die Brücke stürzt ein, und der Zug wird in die Tiefe gerissen. Die Naturgewalten vollenden ihr Werk, und die Ballade schließt mit einem erneuten Dialog der drei Mächte, die ihre Allmacht über den menschlichen Fortschritt betonen. Das wiederholte „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“ unterstreicht die Vergänglichkeit menschlicher Schöpfungen.


Thematik

  1. Hybris des Fortschritts: Das Gedicht kritisiert die Selbstüberschätzung des Menschen und dessen Vertrauen in Technik und Ingenieurskunst. Die Brücke wird zum Symbol dieser Hybris, die letztlich von der Natur bestraft wird.

  2. Natur versus Mensch: Fontane betont die Übermacht der Natur gegenüber menschlicher Technik. Die Natur wird personifiziert und agiert bewusst gegen die menschlichen Errungenschaften.

  3. Tragik und Schicksal: Die Ballade zeigt die Ohnmacht der Menschen angesichts größerer Mächte. Die Brücknersleute und Johnie sind Figuren, die das tragische Schicksal eines unabwendbaren Ereignisses verkörpern.

  4. Vergänglichkeit: Das wiederkehrende „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“ verdeutlicht die Flüchtigkeit menschlicher Werke und den Kontrast zur Unvergänglichkeit der Natur.


Sprachliche Mittel

  1. Personifikation: Naturkräfte wie der Sturm, das Meer und der Nordwind werden als handelnde Figuren dargestellt, die bewusst agieren und zerstören.

  2. Symbolik: Die Brücke steht als Symbol für den technischen Fortschritt, der Zug für die Dynamik der Moderne. Ihr Untergang spiegelt die Grenzen menschlicher Fähigkeiten.

  3. Wiederholungen: Die wiederholten Dialoge und das Refrain-artige „Tand, Tand“ verleihen der Ballade einen eindringlichen, litaneihaften Charakter.

  4. Kontraste: Fontane arbeitet mit Gegensätzen zwischen der ruhigen, hoffnungsvollen Erwartung der Menschen und der zerstörerischen Kraft der Natur.


Interpretation

„Die Brück' am Tay“ kann als Kritik an der überzogenen Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Fontane zeigt, dass technische Errungenschaften nicht unfehlbar sind und dass der Mensch letztlich den Kräften der Natur unterliegt. Die Darstellung der Natur als bewusste, fast überlegene Kraft verdeutlicht Fontanes skeptische Haltung gegenüber der Industrialisierung.

Das Gedicht weist Parallelen zu anderen Werken Fontanes auf, wie etwa der Ballade „John Maynard“, in der ebenfalls ein Unglück auf hoher See thematisiert wird. Während dort der Heldentod im Mittelpunkt steht, wird hier die Unausweichlichkeit des Schicksals betont.


Schluss

Mit „Die Brück' am Tay“ schuf Theodor Fontane eine Ballade, die durch ihre dramatische Handlung und symbolische Tiefe besticht. Sie verbindet historische Tragik mit universellen Themen wie der Macht der Natur und der Vergänglichkeit menschlicher Werke. Die Ballade bleibt ein zeitloses Mahnmal für die Grenzen des menschlichen Fortschritts.

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